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Die Reise zu Onkel Ernst

Auf der Suche nach einem Soldatengrab in Lettland

Meine Großmutter Meta Krüger hatte acht Geschwister. 1900 geboren war sie die Älteste. Ihr jüngster Bruder Ernst wurde mehr als 23 Jahre später geboren, als Meta selber schon eine kleine Tochter hatte. Meine Urgroßmutter Albertine war 46 Jahre alt als sie nochmals schwanger wurde. Der kleine Nachzügler war hoffentlich eine freudige Überraschung für die Familie.

Meine Urgroßeltern lebten damals in Teschenbusch, einem sehr kleinen Ort fünf Kilometer nordwestlich von Schivelbein in Pommern. Mein Urgroßvater Albert war Schweinemeister auf dem Gut des Justus von Cleve. In Teschenbusch drehte sich alles um die Landwirtschaft. Es gab keinen Laden, keine Gewerbebetriebe, keine Schule und in den Häusern kein fließendes Wasser – und doch muss die Kindheit von Ernst eine schöne gewesen sein, zwischen Feldern und Wäldern, mit Kühen, Schafen und reichlich Spielkameraden aus den Teschenbuscher Bauernfamilien.

Ernst war zehn Jahre alt als sein Vater in Rente ging und die Familie ins eigene Haus im benachbarten Pribslaff zog. Dort wird er zur Schule gegangen sein und vielleicht auch einen Beruf erlernt haben. Aber dann kam der Krieg. Wann Ernst eingezogen wurde, ob er sich freiwillig gemeldet hat, ob er mit Euphorie oder Angst in die Schlacht zog – all das weiß ich nicht. Ernst wurde nur 21 Jahre alt. Er fiel in Lettland und ist dort auch begraben, verscharrt im Chaos des Krieges. Es gibt nicht mal ein Photo von ihm.

Aus dem Familienbuch meiner Urgroßeltern

Vom Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge bekam ich vor Jahren die Auskunft, Ernst sei im August 1944 gefallen und in der Dorfmitte von Kurtsalas, acht Kilometer westlich von Madona, Lettland beerdigt. Madona, zu deutsch Modon oder Modohn, im Zentrum Lettlands, etwa 170 km östlich von Riga. Schon damals war mir klar, dass ich irgendwann dorthin fahren würde. 2018 habe ich mich auf den Weg ins Baltikum gemacht und nach Ernst gesucht:

„Nach einigen Kilometern über unbefestigte Straßen komme ich in Kurtsalas an. Der Ort besteht aus drei Häusern und einer Scheune. Ich steige aus dem Auto und schaue mich ein wenig um, da kommt eine alte Frau aus ihrem Haus, vielleicht so um die 70. Sie guckt mich fragend an und ich strecke ihr mein Handy entgegen, mit Google Translate hatte ich den Satz „Ich suche ein Grab aus dem 2. Weltkrieg“ ins Lettische übersetzen lassen. Sie schaut mich an, nickt und geht mit mir um das Haus in ihren Garten. Unter einem Baum bleibt sie stehen und deutet auf die Erde. Ich habe sie leider nicht verstanden, ich spreche kein Wort lettisch und sie vielleicht 10 Worte Englisch. 1944, sagt sie. Ja, sage ich und tippe ins Handy „Bruder meiner Großmutter“. Sie spricht weiter, hätte ich das nur alles verstehen können. Ich mache ein paar Photos und wir gehen wieder. Zum Abschied umarmt sie mich und winkt mir noch lange hinterher.
Was für ein Erlebnis. Was hätte meine Großmutter dazu gesagt? Ist es wirklich Ernst, der unter dem Baum vergraben liegt? Soll ich noch mal hin und aufnehmen, was die alte Frau sagt und das Ganze in Deutschland übersetzen lassen? Nein, dieser Moment war zu einzigartig, ich will jetzt glauben, dass der kleine Bruder meiner Omi an diesem friedlichen Ort in einem schrecklichen Krieg seine letzte Ruhe gefunden hat.“

Am Abend nach dieser unfassbaren Begegnung schrieb ich dem Volksbund. Ich berichtete auch, dass die alte Frau gestikuliert hatte, dass mehrere Menschen unter dem Baum begraben seien. Ob der Volksbund hier tätig werden könne. Die Antwort folgte schon drei Tage später. Der Lettland-Experte werde einen Auftrag erhalten, vielleicht könnte irgendwann eine Umbettung erfolgen. Ich war begeistert und voller Hoffnung.

Leider ist bis zum heutigen Tag nichts passiert. 2019 habe ich nochmals nachgefragt, es kam keine Antwort. Vor einigen Wochen habe ich es wieder probiert, diesmal ist aber Corona Schuld, dass es zur Zeit nicht vorangeht. Ich hoffe weiter.

Die „Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht“ konnte mir kaum etwas über Ernst sagen. Wenigstens kannten sie den Truppenteil, dem Ernst angehörte: 8. Kompanie Grenadier-Regiment 24. Dann einfach mal den Truppenteil und den Suchbegriff „Feldpostnummer“ in die Suchmaschine eingeben und hoffentlich fündig werden. Hat man die Feldpostnummer, kann man in der Vermisstenbildliste des Deutschen Roten Kreuzes suchen.

Ernst fand ich dort nicht. Dafür aber zwei Männer, die seit August 1944 in Kurtsalas vermisst sind: den damals genau wie Ernst 21 Jahre alten Kellner Anton Voit aus der Tschechoslowakei und den 25jährigen Alfred Freppel aus Erlenbach im Elsass. Außerdem den 43jährigen Bäcker Herbert Küssel, der „8 km westlich von Modohn“ vermisst ist. Genau das stand auch im Sterbeeintrag von Ernst im Familienbuch der Krügers: vermisst 8 km westlich von Modon. Liegen Ernst und diese drei Männer gemeinsam im Garten der alten Frau in Kurtsalas begraben?

Ich hoffe so sehr, dass ich irgendwann ein Update geben kann und Ernst nach fast 100 Jahren doch noch ein Grab bekommt, auf dem sein Name steht.

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Bernd

    Sehr schön, dass Du Deine Vorfahren nicht vergisst! Nicht aufgeben – man braucht einen langen Atem und leider oft auch etwas Glück. Nach jahrelanger Recherche habe ich das Grab meines Großvaters in Russland gefunden, mittlerweile ist er umgebettet. Eine Reise dorthin ist auch immer eine Reise zu sich selbst. Ich wünsche Dir viel Glück und Erfolg bei Deinen weiteren Bemühungen.

  2. Julia

    Vielen Dank, lieber Bernd. Ich hoffe weiter!

  3. Thomas

    Hallo Julia,
    eine tolle Geschichte! Und sehr schön, dass Du fündig geworden bist! Bei einem vermissten Großonkel von mir lautet der Eintrag ebenfalls „westlich von Modohn“. Mehr konnte ich über ihn nocht nicht herausfinden. Dafür hatte ich bei der Suche nach meinem Großvater einen ähnlichen Erfolg wie Du. Auch ich machte mich auf den Weg und schrieb die Geschichte auf, die man hier nachlesen kann:
    https://ttiemeier.de
    Ich wünsche Dir weiterhin viel Erfolg bei Deinen Recherchen!
    Liebe Grüße
    Tom

  4. Steve

    Vielen Dank für den wunderbaren Blog. Meine Großmutter hieß auch Meta, und ich habe auch einen Onkel Ernst. (aus Ostpreußen)

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