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Wer sind Tante Annelise und Onkel Paul?

Auf der Suche nach meinen unbekannten Verwandten aus der DDR

Ich bin mit der Teilung Deutschlands groß geworden. Die DDR war für mich ein unbekanntes und furchteinflößendes Land. Ein Land, das so weit weg zu liegen schien, dass Pakete dorthin viele Wochen unterwegs waren. Aus dem die Menschen nicht raus und in das wir nicht rein durften. Und sowieso kannte ich niemanden, der jemals dort war. Wir reisten nach Italien, nach Frankreich, sogar nach Amerika – aber Magdeburg oder Plauen schienen auf einem anderen Planeten zu liegen.

In dieser fernen Welt hatte ich Verwandte. Doch genauso wenig wie ich über ihr Land wusste, war mir klar, wie wir eigentlich verwandt waren. Als Kind habe ich nie gefragt, wer Tante Annelise und Onkel Paul waren und warum sie zur Familie gehörten. Das Paket in die rätselhafte Stadt Plauen, das als allererste Weihnachtspost meist schon im November auf die Reise ging, war ganz anders gefüllt als das an andere Verwandte. Eierlikör musste rein, Feinstrumpfhosen, Schokolade und Kaffee. Neben die Adresse schrieben wir in großen Buchstaben „Geschenksendung- Keine Handelsware“ auf das Packpapier. Ich trug das Päckchen vorsichtig wie einen kleinen Schatz zum Postamt und gruselte mich beim Warten in der Schalterhalle vor den finsteren Gestalten, die mich vom Terroristen-Fahndungsplakat an der Wand zu beobachten schienen.

An Heiligabend lag dann immer auch ein braunes Paket aus Plauen unter dem Weihnachtsbaum. Drin waren kleine Holzfiguren mit großen Blumen in den Händen oder fein gehäkelte Spitzendeckchen, die mich als Kind nicht sehr interessierten. Einmal auch eine Schallplatte mit Liedern und Texten, über die mein Vater laut und nicht sehr freundlich lachte. Ich verstand nicht, was für ihn so witzig war. Im Gegenteil, ich fand es schön, dass sich die unbekannten Verwandten Gedanken gemacht hatten, womit sie einem angehenden Teenager eine Freude machen konnten. Bis heute aufgehoben habe ich ein grünes Poesiealbum, in das Tante Annelise und Onkel Paul geschrieben haben.

Irgendwann an Heiligabend kam dann der Anruf, immer zur falschen Zeit, wir hatten uns entweder gerade zum Essen hingesetzt oder angefangen, die Geschenke zu öffnen. „Das Gespräch aus der DDR ist da“, riefen meine Eltern. Wir standen aufgeregt um den Hörer und jeder kam mal dran. Wie es mir ginge, wie es in der Schule sei und ob ich mich freuen würde auf den Weihnachtsmann, wollte Tante Annelise wissen. Die Leitung rauschte und knackte und der Dialekt war mir fremd, so als säßen die Anrufer an einem sehr weit entfernten Ort.
Ob wir vielleicht einmal hinfahren könnten, in dieses Plauen, fragte ich. Meine Eltern lachten: die lassen uns nicht rein, sagte meine Mutter. Und dann erzählte sie, dass sie sich mit Tante Annelise heimlich getroffen hätte, auf der Toilette einer Autobahnraststätte an der Transitstrecke. Zwei Restaurants hätte es da gegeben, eines für Menschen aus dem Westen und eines für die aus dem Osten, nur die Toiletten hätten keinen Unterschied gemacht. Sie hätte Annelise zwischen Waschbecken und Kloschüsseln umarmen und ihr Geschenke zustecken können, die sie in ihrem weiten Mantel verborgen hatte.

Dann schrieb Tante Annelise einen Brief, der letzte, den wir je von ihr bekamen. Ihr Sohn würde in den Staatsdienst gehen und ab sofort wäre es schwierig mit Westkontakten. Ich war damals mitten in der Pubertät und unbekannte Verwandte kümmerten mich nicht sehr. So verschwanden Tante Annelise und Onkel Paul aus meinem Leben.

Fast 30 Jahre später wollte ich wissen, wer diese Tante und dieser Onkel waren, die mich in meiner Kindheit aus der Ferne begleitet hatten. Fragen konnte ich niemanden mehr und der einzige Anhaltspunkt den ich hatte, war eine vage Erinnerung an eine Erzählung meiner Mutter. Tante Annelise sei mit meinem Großvater verwandt gewesen.

Ich stand noch ganz am Anfang meiner Ahnenforschung. Wo meine Großeltern herkamen, wusste ich damals nicht. In den Unterlagen meiner Mutter fanden sich zwei vergilbte Kopien vom „Staatlichen Notariat in Zeitz, Platz der Einheit 1“. Die Sterbeurkunde einer Agnes Werner, geborene Noack, geboren am 13. September 1874 in Kleinpörthen, gestorben am 10. Januar 1956 in Geußnitz-Wildenborn. Und der letzte Wille von Agnes, sieben Zeilen, mit denen sie ihren Enkelinnen, darunter meiner Mutter, ihr Besitztum in Kleinpörthen vererbte. Agnes Werner war also meine Urgroßmutter, die Mutter meines Großvaters Johannes.

Kleinpörthen
Kleinpörthen Dorfstraße

Kleinpörthen ist ein winziges Dorf ganz im Süden von Sachsen-Anhalt an der Grenze zu Thüringen. Und fährt man ein paar Minuten nach Osten, ist man schon in Sachsen. Ein echtes Dreiländereck mit kilometerweise wechselnden Zuständigkeiten der Standesämter und Archive. Aber ich hatte Glück: In Family Search fand sich doch tatsächlich das Kirchenbuch von Kleinpörthen. Von Seite zu Seite wuchs meine Familie. Agnes Noack hatte fünf Geschwister, alle in Kleinpörthen geboren.

Und mein Glück ging weiter: auf MyHeritage hatte jemand einen Stammbaum eingestellt. Danach hatte ein Emil Richard Noack, geboren 1877 in Kleinpörthen, eine Martha Helene Kapitain geheiratet. Und sie hatten eine Tochter Annelise. Das mussten sie sein. Richard, der Bruder meiner Urgroßmutter Agnes. Annelise, seine Tochter und damit Cousine meines Großvaters.

Letzte Sicherheit gaben mir die historischen Adressbücher von Plauen – Richard Noack hatte in der Gluckstraße gewohnt, genau die Straße, in die unsere Pakete an Tante Annelise und Onkel Paul gegangen waren. Er war Inhaber eines Baugeschäfts. Und sein Geschäftspartner war Onkel Paul gewesen!

Aus dem Adressbuch der Stadt Plauen 1940

Tante Annelise war also die Cousine meines Opas – ungewöhnlich, dass der Kontakt zu uns so intensiv gewesen war. Aber vielleicht auch ein Zeichen, dass die Flucht über die Zonengrenze bei meiner damals erst neun Jahre alten Mutter Sehnsüchte hinterlassen hatte. Wurzeln, die Mauern und Todesstreifen nicht kappen konnten.

2014 machte ich mich auf ins unbekannte Plauen. Hinter dem Autobahn-Dreieck Hochfranken endet Bayern und das sächsische Vogtland beginnt. Nach Plauen sind es dann noch zwei Ausfahrten. Was früher wie aus einer anderen Welt schien, ist eigentlich so nah.

Mein erster Eindruck von Plauen ist mit den Jahren verschwommen. Ein sehr großer Marktplatz. Straßenzüge mit tollen Altbauten, aber auch Bausünden, nicht nur aus DDR-Zeiten. Ein wunderbares kleines Hotel im Zentrum, sehr liebevoll restauriert und voller Antiquitäten, das Alte Handelshaus. Aber ich war ja nicht als Touristin da.

Altes Rathaus Plauen, Bild von Hans Linde auf Pixabay

Ich fand es, das Haus in der Gluckstraße. Ein stilvoll renoviertes historisches Gebäude, vielleicht von Richard Noack gebaut, zumindest das Gebäude 25-29 geht laut Wikipedia auf sein Konto. Gar nicht so weit entfernt lag ein Friedhof. Waren Annelise und Paul hier begraben? Ein freundlicher Friedhofsmitarbeiter telefonierte für mich herum – nein, nicht hier, sondern auf dem Hauptfriedhof. Ich machte mich sofort auf den Weg. Die wieder sehr freundliche Friedhofsmitarbeiterin hatte schon auf mich gewartet. Das Grab sei leider nicht mehr erhalten. Aber die Urnen seien umgebettet worden, in ein Gemeinschaftsgrab. Sie notierte die Sterbedaten für mich und zeigte mir den Weg über den großen Friedhof.

Tante Annelise und Onkel Paul haben die Grenzöffnung nicht mehr erlebt, sie sind beide 1983 gestorben, im Abstand von nur wenigen Monaten. Sie wurde 78 Jahre alt, er 82. Ich saß an dem großen Rasengrab und beschloss, ihnen einen letzten Brief zu schreiben. In der Gärtnerei gegenüber kaufte ich einen Blumenstrauß, faltete den beschriebenen Briefbogen und schob ihn zwischen die Blüten. Es hat lange gedauert, bis ich euch gefunden habe. Schade, dass wir uns nie kennenlernen durften.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Ingrid

    Sehr schön geschrieben! Für mich war interessant, die „andere Seite“ zu lesen. Vielen Dank!

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