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Der Untergang einer Familie

Die Geschichte meines Großonkels Bruno Krüger, vermisst in Russland, seiner Frau Käthe und ihrer kleinen Tochter Waltraud, gestorben bei einem Luftangriff auf Berlin

Berlin im Frühsommer 1944

Der 20. Juni 1944 war ein trüber Tag. Graue Wolken hingen über Berlin, aber die Temperaturen waren angenehm und gaben einen Vorgeschmack auf den nahenden Sommer.1https://chroniknet.de/extra/historisches-wetter-nach-monat/?wetter-monat=juni-1944&wetter-station=402-berlin

Käthe Krüger stand am geöffneten Fenster ihrer Wohnung in der Palisadenstraße 60 in Friedrichshain und atmete die milde Luft ein. Sie beugte sich gerade so weit nach vorne, dass sie das zerbombte Haus in der Nachbarschaft nicht sehen musste. Den Krieg für kurze Zeit ausblenden. Sie war in dieser Wohnung geboren worden. Emil Podolske, ihr Vater, war hier gestorben, am 2. Weihnachtsfeiertag vor 12 Jahren. 22 war sie damals gewesen und stolz darauf, unabhängig zu sein: sie hatte Zuschneiderin gelernt, wie schon ihre Eltern Emil und Elise. Von ihrer Arbeit beim Heeresbekleidungsamt in der Lehrter Straße konnte sich Käthe zwar nur ein Zimmer in Moabit leisten, aber es bedeutete Freiheit.2Vermutung, Käthe Krügers Adresse bei ihrer Heirat lautete Lehrter Str. 46, das Heeresbekleidungsamt befand sich bis 1942 in der Lehrter Str. 57-58 Sie liebte es, Kleidungsstücke zu entwerfen und Schnittmuster anzufertigen. Und sie war damals voller Pläne gewesen. Heiraten, Kinder, eine Wohnung im Berliner Westen oder sogar ein Häuschen im Grünen. Dass sie mit Anfang 30 zurückkehren würde nach Friedrichshain, um bei ihrer verwitweten Mutter einzuziehen, zwar verheiratet, aber doch ohne Mann, hätte sie sich vor ein paar Jahren nicht träumen lassen.

Es gab schlechtere Gegenden in Friedrichhain als die rund um die Palisadenstraße. Hier im Frankfurter Viertel standen die Häuser nicht ganz so gedrängt wie im Rest des Stadtteils und zum Volkspark war es nicht weit. Manchmal konnte man glauben, man sei gar nicht in Berlin, wenn fremde Dialekte durchs Treppenhaus und die Straßen schwirrten. Das halbe Viertel stammte aus dem Osten.3https://de.wikipedia.org/wiki/St.Pius(Berlin) So wie bei ihr im Haus, die Hälfte der Bewohner kam aus Westpreußen. Die meisten von ihnen katholisch, deswegen hatte man vor vierzig Jahren ein paar hundert Meter die Straße runter St. Pius gebaut, die zweite katholische Kirche in Berlin. Auch Emil Podolske war aus der Gegend um Posen in die Stadt gekommen, um hier sein Glück zu finden. Mit Elise Hagedorn hatte er sich in eine echte Berlinerin verliebt und ihre einzige Tochter Käthe konnte sich gar nicht vorstellen, in einer anderen Stadt als Berlin zu leben.

Pharus-Plan Berlin von 1902, Friedrichshain, bearbeitet, CC0 1.0

Und dann hatte sich Käthe ausgerechnet in einen Mann aus Hinterpommern verguckt. Bruno Krüger war Käthe sofort aufgefallen, ein gut gekleideter, stattlicher Mann. Er war aus der Gegend um Schivelbein nach Berlin gekommen und hatte hier Arbeit als Maurer gefunden. Aber kaum war Käthe und Bruno klar geworden, dass sie sich ein gemeinsames Leben aufbauen wollten, hatte er den Einberufungsbefehl erhalten. Den Takt ihrer Ehe gab jetzt der Krieg an. Brunos Fronturlaub im März 1940 hatten sie genutzt, um zu heiraten. In seinem Weihnachtsurlaub ein paar Monate später war dann die Kleine entstanden. Waltraud würde in drei Monate zwei Jahre alt werden. Ihren Vater hatte sie noch nie gesehen. Fast ein Jahr war es her, dass sie das letzte Mal von Bruno gehört hatten. Aus der Gegend um Stalingrad.

Käthe und Bruno Krüger 1940 auf dem Weg ins Standesamt

Käthe seufzte. Ein furchtbarer Morgen lag hinter ihr. Kurz vor zwei Uhr in der Nacht waren sie, ihre Mutter und die kleine Waltraud aus dem Schlaf gerissen worden. Fliegeralarm, siebeneinhalb Stunden lang. Der 210.4Luftangriffe auf Berlin, Die Berichte der Hauptluftschutzstelle 1940 – 1945, Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin, Herausgegeben von Laurenz Demps, S. 261, die „Kriegschronik der Reichshauptstadt Berlin“ berichtet von einem Fliegeralarm von 8.48 – 9.22 Uhr Sie würde sich niemals an das Heulen der Sirenen gewöhnen, an die Panik, eben noch im Bett, jetzt hellwach. Sie hatte der Mutter aus dem Bett geholfen, das zitternde Kind auf den Arm genommen, nach dem kleinen Koffer in der Diele gegriffen. Ein letzter Blick zurück in die Wohnung, da hatte sie schon das Poltern im Treppenhaus gehört, das Pochen an ihrer Tür: „Kommen Sie, Frau Krüger, Frau Podolske, wir sind schon fast vollzählig.“

Gemeinsam mit den Nachbarn war sie die Treppe hinunter in den Keller gestolpert, hinein in den dunklen kalten Raum und weiter nach hinten zu der schmalen Holzbank. Erst mal Waltraud hinlegen, dann hatte sie der Mutter helfen können. Der Luftschutzwart hatte durchgezählt und dann die eiserne Tür zugezogen. Mehr als sieben Stunden hatten sie in dem dunklen Loch gesessen, müde und hungrig, nur kaltes Wasser aus einem Eimer. Waltraud hatte geschluchzt, sich in ihren Schoß gekuschelt und war zum Glück irgendwann eingeschlafen. Und über ihnen das Dröhnen der Flugzeuge. 

Berlin am 8. April 1944. Der Rundfunk hat anfliegende feindliche Flugzeuge gemeldet. Die Bevölkerung sucht ihre Luftschutzräume auf.

Um halb zehn hatte es endlich Entwarnung gegeben. Die Bomber hatten abgedreht, ein Teil war weiter Richtung Osten nach Stettin geflogen, die anderen Maschinen nach Westen Richtung Magdeburg. Der Luftschutzwart hatte die schwere Kellertür geöffnet und war vorangegangen um nachzuschauen, ob das Haus über ihnen noch stand. Ein Blick die Palisadenstraße hinunter, war eine Bombe eingeschlagen? Sah man den Turm von St Pius noch? Surrte das Umspannwerk an der Straßenecke weiter? Aber alles sah noch aus wie am Tag zuvor.

Auch in der Wohnung war alles unverändert. Käthe hatte die bebende Mutter auf das Sofa gelegt und Waltraud endlich einen warmen Haferbrei gemacht. Die beiden erwachsenen Frauen bekamen eine Tasse Malzkaffee und eine Scheibe Weißbrot mit der guten Blaubeermarmelade von Oma Krüger aus Pribslaff. Keine Toten in dieser Nacht.

Seit März beschossen jetzt auch die Amerikaner Berlin aus der Luft. Nachts die Briten, tagsüber die Amerikaner.5Michael Willst, Christoph Kreutzmüller: Berlin 1933-1945 S. 358 ff Alle hatten gehofft, dass es mit dem Ende der britischen Schlacht um Berlin im März besser werden würde. Das Gegenteil war der Fall gewesen. Jetzt saßen sie Tag und Nacht im Keller.

Und nun stand sie hier am Fenster und fragte sich wieder und wieder, ob es richtig gewesen war, in der Stadt zu bleiben. Hätte sie mit Waltraud und ihrer Mutter nicht besser zu den Schwiegereltern nach Pribslaff übersiedeln sollen? Oder sich Umquartieren lassen in die Mark Brandenburg oder gar nach Ostpreußen, wie von den Behörden empfohlen?6Erlass des Reichsinnenministeriums vom 19. April 1943 über Umquartierungen wegen Luftgefährdung und Bombenschäden Aber was wäre dann mit ihrem Mann Bruno geschehen, wenn er doch den Weg nach Hause gefunden hätte? Nicht alle waren bei Stalingrad ums Leben gekommen. Käthe stellte sich vor, wie er vergeblich an die Tür der Palisadenstraße 60 klopfte, voller Sehnsucht nach Frau und Töchterchen, und die Witwe Jaruzal ihm von oben zurief: „Die sind abgereist, ins Pommersche.“ Nein, sie hatten bleiben müssen. Alle drei. Waltraud war zu jung für die Kinderlandverschickung. Sie und Waltraud hätten abends zwar versuchen können, einen Platz im „Mutter und Kind“-Bunker in der Fichtestraße in Kreuzberg zu ergattern, um eine Nacht in Sicherheit zu verbringen.7Laurenz Demps Luftangriffe auf Berlin, S. 70 unten Aber was wäre dann mit ihrer Mutter Elise passiert? Sie konnte sie doch nicht allein lassen.

Im Bunker unter dem Bahnhof Szczecin/Stettin

Der Tag schien ruhig zu bleiben. Vielleicht sollte sie die Zeit nutzen, um einzukaufen. Zwar wurde der Einkauf durch Lebensmittelmarken limitiert, aber Hunger hatten sie bisher nicht gelitten und für das ein oder andere Extra sorgte die Pribslaffer Verwandtschaft. Käthe lachte bitter. Keine Vorräte mehr anlegen. Wenn das Haus mit ihnen unterginge, würden wenigstens keine Lebensmittel verschwendet.

Oder vielleicht an die frische Luft mit Waltraud? Die Kleine liebte den Märchenbrunnen im Volkspark. Die Statue von Hans im Glück mit dem hüpfenden Schweinchen hatte es ihr besonders angetan. Nur eine knappe Viertelstunde wären sie zu Fuß unterwegs und sollte es doch noch einen Alarm geben, wäre der Bunker im Flakturm nicht weit entfernt.

anonym, Märchenbrunnen Friedrichshain 1913, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

Oder einfach für einen Abend die Kleine bei ihrer Mutter Elise lassen? Zehn Minuten bis zu den Tilsiter Lichtspielen nur zwei Straßen weiter. Im Januar war die Feuerzangenbowle angelaufen, ein lustiger Abend mit Heinz Rühmann, was wäre das für ein Vergnügen. Kurz schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie den restlichen Tag mit Bruno verbringen könnte. Ein Spaziergang durch den frühsommerlichen Abend. Eine Weiße mit Schuss im Breithaupt-Brauerei-Ausschank am Ende der Straße. Oh Bruno, wo bist Du nur?

Im Osten 1940

Auf ihren Bruno war die Familie Krüger stolz. Er hatte es geschafft, war der hinterpommerschen Provinz rund um Schivelbein entkommen und hatte sich in der Großstadt Berlin eine Existenz aufgebaut. „Ein stattlicher Mann“, schwärmte meine Tante Lisbeth. Die wenigen Photos, die es von ihm gibt, lassen ahnen, was sie meinte. Bruno stets gut gekleidet, in Anzug und langem Mantel, die Haare mit Pomade zurückgekämmt. Auf seinem Hochzeitsbild trägt er Vatermörderkragen und Fliege, in der rechten Hand hält er einen Zylinder und weiße Handschuhe. Er schaut ernst und geheimnisvoll in die Kamera. Vielleicht kein klassisch schöner Mann, aber Bruno hatte Stil, keine Frage.

Bruno Krüger wurde 1910 im hinterpommerschen Wopersnow geboren. Seine Eltern – meine Urgroßeltern – waren einfache Landarbeiter. Alle mussten mit anpacken – früh auch die Kinder. Und alle wollten dem harten Landleben entkommen. Die Mädchen, so wie meine Großmutter, durch Heirat. Brunos Bruder Max, indem er freiwillig zum Militär ging. Bruno wagte den Schritt in die Großstadt – er schaffte es nach Berlin und arbeitete dort spätestens ab 1939 als Maurer.

Ob Bruno sich freiwillig zur Armee meldete oder eingezogen wurde, wann er zum Militär kam und welche Stationen er dort durchlief, war nicht herauszufinden. Es gibt drei Quellen: die Vermisstenbildliste des Deutschen Roten Kreuzes, die Auskunft der „Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallen der ehemaligen deutschen Wehrmacht“ (WASt) und die Akte des Amtsgerichts zur Todeserklärung.

Die Unterlagen des DRK weisen ihn als Obergrenadier aus, der im November 1942 im großen Donbogen eine letzte Nachricht abgegeben hat.

Nach Auskunft der WASt wurde Bruno Krüger „seit dem 21.12.1942 als Angehöriger der Einheit 9. Kompanie Grenadier-Regiment 183 bei Kamenska-Pogowka/UdSSR vermisst.“

Das Gutachten des DRK Suchdienstes kommt zu dem Schluss, dass Bruno Krüger „mit hoher Wahrscheinlichkeit zwischen dem 18. und 30. Dezember 1942 bei den Rückzugskämpfen von Tschir nach Morosowskaja gefallen ist.“

Auszug aus der Vermisstenbildliste des Deutschen Roten Kreuzes

Bruno Krüger gehörte zu den „Weißen Jahrgängen“, zu jung für den Ersten Weltkrieg, zu alt für die Wehrpflicht in der Wehrmacht. Das schützte ihn aber nicht lange. Bruno hätte den Sprung in die Hauptstadt sicherlich nicht gewagt, um sich dann freiwillig zum Militär zu melden. Wahrscheinlich wurde er eingezogen. Ab 15. März 1940 wurde sein Jahrgang voll einberufen.8 https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Soldat/Wehrdienst.htm In einer dreimonatigen Schnellbleiche wurde den damals 30jährigen das Töten beigebracht.9Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 5/1, S. 710

Die Geschichte seiner Einheit, der 62. Infanterie-Division, ist umfassend auf über 500 Seiten dokumentiert vom „Kameradenhilfswerk der ehemaligen 62. Division“. Das Buch ist 1968 erschienen und von einer erschreckend rückwärtsgewandten und gänzlich unkritischen Mentalität getragen. Es erfüllte für mich den Zweck, die letzten Monate von Bruno besser nachvollziehen zu können. Aber es ist auch ein Zeugnis dafür, welcher Geist die deutsche Gesellschaft in meiner Kindheit noch durchwaberte.

Die 62. Infanterie-Division umfasste drei Regimenter. Wahrscheinlich wurde Bruno Krüger dem 183. Regiment zugeteilt. Ende Juli 1940 wurde die gesamte Division in den Osten Polens verlegt. Brunos Regiment bezog nördlich und südlich der Stadt Włodawa am Fluss Bug Stellung.10Die 62. Infanterie-Division S. 154 Noch schien der Krieg weit weg. „Die Aufgabe ist lediglich, Besatzung von Polen zu sein.“, lautet die zynische Beschreibung im Buch des Kameradenhilfswerks.11Die 62. Infanterie-Division S. 194 Vordringlich seien: 1. Verbesserung der Unterkunft, 2. Urlaub und 3. Ausbildung der Truppe. Für Bruno Krüger die Gelegenheit, nach Berlin zu fahren und zu heiraten. Am 8. März 1941 wurde Käthe Podolske im Standesamt von Berlin-Friedrichshain – damals „Standesamt Horst Wessel“ – in der Koppenstr. 70 seine Frau.

Auszug aus dem Familienbuch Krüger

Keine Zeit für die junge Ehe, Bruno musste zurück zum Militär. Und jetzt wurde es blutiger und tödlicher Ernst mit dem Krieg. Keine vier Monate später begann das Unternehmen Barbarossa, der Überfall auf die Sowjetunion. Am 22.06.1941 überquerte die Division von Bruno Krüger den Fluss Bug im Osten Polens und drang in die Ukraine ein.12Die 62.Infanterie-Division S. 207 Drei Monate kämpften sie sich durch den Norden der Ukraine Richtung Kiew. Sie brachten Tod, Verwundung und Zerstörung. An der „Kesselschlacht von Kiew“ war Brunos Division östlich der ukrainischen Hauptstadt beteiligt und ließ die Chronisten jubeln: „Eine Summe heldenhafter Einzelleistungen, die mit goldenen Lettern im Ehrenbuch der deutschen Kriegsgeschichte verzeichnet sind. Auf allen Straßen, auf den weiten, herbstlichen kahlen Feldern liegen noch die toten Soldaten der Sowjetarmee als Zeugen, wie blutig und unerbittlich hier das deutsche Schwert zuschlug“ 13Die 62.Infanterie-Division S. 241 – wohlgemerkt: geschrieben 1968.

Natürlich frage ich mich, ob sich auch Bruno als Held sah, stolz war auf die Ermordung und Verwundung von 163.600 russischen Soldaten. Die 100.000 deutschen Toten und Verwundeten als notwendiges Übel ansah. „Nach dem harten Gesetz des Krieges erwachsen keine entscheidenden Siege ohne Blutopfer. So blieben auch in den Ebenen ostwärts des Dnjepr viele tapfere und bis zum letzten getreue Söhne unseres Volkes auf der Walstatt.“, schrieben später seine Kameraden.14ie 62. Infanterie-Division S. 241

Wusste Bruno vom Massaker von Babyn Jar, dem gleich nach dem Einmarsch der Deutschen in Kiew 33.000 Juden auf schrecklichste Weise zum Opfer fielen? Ich sehe Bruno auf dem Bild in der Suchbildliste, die Mütze groß über dem hageren Gesicht und mit fast erschrockenem Blick. Nein, denke ich mir, doch nicht Bruno, der wollte doch gar nicht zur Armee. So denken wahrscheinlich viele über ihre Verwandten.

Nach dem „Erfolg“ in Kiew war Hitler der Meinung, dass man es trotz des herannahenden Winters jetzt mit Moskau aufnehmen könne. Vordergründig hatte Brunos Division Glück – sie schied am 9. Oktober 1941 aus dem Verband der 6. Armee aus. Das weitere Schicksal der 6. Armee ist bekannt – die Schlacht und den Kessel von Stalingrad überlebte kaum jemand.

Der Winter nahte, das Wetter wurde schlechter. Regen, Dreck und Schlamm, aber Brunos Regiment konnte zunächst in Poltava bleiben, einer Stadt im Osten der Ukraine. Sicherung und Befriedung der Stadt und ihrer Infrastruktur sollten sie betreiben. „Partisanen und Banditen“ wurden „vernichtet“.15Die 62.Infanterie-Division S.246 Was das konkret bedeutete, dazu schweigen sich die Chronisten aus. Die Geschichtsbücher berichten, dass im September und November 1941 8000 Juden in Poltava ermordet wurden16https://www.jewishvirtuallibrary.org/poltava und ab 1941 800 psychisch kranken Menschen.

Mitten im Krieg, im Chaos, im Leiden und Sterben geschah dann, was man eher in einem friedlichen Arbeitsverhältnis erwartet: Bruno Krüger bekam Urlaub. Im Dezember 1941 muss er im fernen Berlin gewesen sein, denn da wurde seine Tochter Waltraud gezeugt. Weihnachtsurlaub mitten in einem brutalen Eroberungskrieg? Das war nicht ungewöhnlich im Zweiten Weltkrieg. Christian Packheiser hat dem Thema ein ganzes Buch gewidmet. In „Heimaturlaub – Soldaten zwischen Front, Familie und NS-Regime“ schildert er die „Seelischen Vitamine für Heimat und Front“. Im Dezember 1941 wurde für die im Osten eingesetzte Wehrmacht der Urlauberverkehr aufgenommen. Die Urlaubsdauer betrug 20 Tage ab Reichsgrenze. 17„Heimaturlaub“ S.101

Eine kurze Verschnaufpause für Bruno Krüger. Wie mag es gewesen sein, aus der Feiertagsidylle wieder mitten in den Krieg und tiefen Winter zurückzukehren? Mittlerweile war seine Division nach Bereka im Bezirk Charkiw vorgestoßen und es wurde heftig gekämpft. Hohe Schneeverwehungen, vereiste Waffen, Erfrierungen, Hochwasser im Tauwetter, erneute Kälte, in der alles gefror, bis in den April hinein. Kämpfe Tag und Nacht erwarteten ihn.18Die 62.Infanterie-Division S. 251 Die Erfolge blieben aus, es wurde gekämpft und verloren, kaum etwas ging voran, zunehmend auch Opfer in den eigenen Reihen. Die Russen verteidigten sich mit Panzern. Die Attacken „reißen auch manchen sonst tapfer kämpfenden Soldaten mit in den Strudel der Fassungslosigkeit hinein.Die Männer sind eben seelisch und körperlich am Ende ihrer Kräfte und der Panzerschrecken ist überwältigend.“19Die 62.Infanterie-Division S. 280/81 zum 16.05.42 Vom „Führer“ kamen Auszeichnungen und ein Durchhaltebefehl. Der Ton der Chronisten ändert sich merklich: „Wer solche Hetzjagden nicht mitgemacht hat, kann sich das Bild nicht vorstellen: Am Ende bricht alles auf einem Haufen zusammengedrängt zusammen, von der Erschöpfung übermannt, nur einige vor Übermüdung halb irrsinnige Offiziere und Unteroffiziere sichern und bewachen den Schlaf der anderen!“20Die 62.Infanterie-Division S. 291 Nachdem der Winter verlustreich überstanden war, kam im Juli 1942 der Vormarschbefehl nach Russland. Ende des Monats erreichte Bruno mit seiner Division den Don bei Migulinska, gut 300 km von Stalingrad entfernt. Im Regiment waren nur noch wenige Leute übrig, kein Benzin mehr, jetzt war die Hitze das Problem und kurze Zeit später starker Regen. Es ging nichts vor und wenig zurück.

Am 12.09.1942 wurde im fernen Berlin Brunos Tochter Waltraud geboren. Ihr frischgebackener Vater war mitten im Chaos des russischen Schlachtfeldes und bangte täglich um sein Leben. Einen erneuten „Urlaub“ wird es sicher nicht gegeben haben. Vielleicht konnte Käthe ihm wenigstens ein Bild der Kleinen schicken. Aber kennengelernt hat Bruno Krüger seine Tochter nie.

Brunos Ende beginnt am 17.12.1942. Seine Einheit wird im Kriushatal in Russland angegriffen, vom Boden und aus der Luft.21Die 62.Infanterie-Division S. 329 „Überall auf der weiten Schneelandschaft sind Soldaten zerstreut und laufen um ihr Leben.“22Die 62.Infanterie-Division S. 331 Irgendwo in diesem Chaos muss Bruno Krüger gestorben sein. Den genauen Ort, den genauen Tag konnte niemand herausfinden. Die WASt nennt den Ort „Kamenska-Pogowka“, der nirgendwo zu finden ist. Das Gutachten des DRK spricht von Karginskaja zwischen Popowka und Kaminski. Karginskaja wird auch in den Frontberichten als Schlachtplatz des IR 183 am 20.12.1942 genannt.23Die 62.Infanterie-Division S. 331 Bruno Krüger konnte nie beerdigt werden. Auf dem Deutschen Soldatenfriedhof im etwa 200 Kilometer östlichen Rossoschka ist sein Name in einen der Steinquader eingemeißelt. Seine Geschwister haben ihn erst 1982 für tot erklären lassen.

Berlin am 21. Juni 1944

Käthe Krüger lebte weiter mit der Hoffnung, dass Bruno wieder zu ihr zurückkehren würde. Anderthalb Jahre nachdem sich die Spur von Bruno am Don verlor, hatte Käthe Krüger nach einer Nacht ohne Fliegeralarm am 21. Juni 1944 vielleicht gerade das Frühstücksgeschirr gespült, als die Sirenen um 9:25 Uhr wieder losheulten. Haben sie und die Hausgemeinschaft diesmal versucht, den Bunker im Volkspark Friedrichshain zu erreichen? Hatten sie eine Ahnung, dass es diesmal zu einem schweren Angriff kommen würde, Friedrichshain nicht verschont bleiben würde? Waren sie deswegen nicht im Keller, sondern auf der Straße? Dort, wo sie erschlagen werden konnten durch einstürzende Steinmassen, wie es in ihren Sterbeurkunden stand? Oder hatten sie es in den Keller geschafft und dieser brach über ihnen zusammen? Am 21. Juni 1944 starb um 10:15 Uhr die Hausgemeinschaft der Palisadenstraße 60. Käthe Krüger, geborene Podolske, 33 Jahre alt. Ihre Mutter, die Witwe Elise Podolske, geb. Hagedorn, 61 Jahre alt. Waltraud Krüger, ein Jahr und neun Monate alt. Die Rentnerinnen Pauline Jusko, Meta Steuck, Maria Steinke und Johanna Jaruzal, die 53jährige Frieda Baumann und der 43jährige Reichsbahnzugführer Gustav Grönke als einziger Mann. Die 24jährige Anneliese Weber wohnte um die Ecke und war wahrscheinlich nur zufällig in der Palisadenstraße. „Tod durch Fliegerangriff, zerstückelt durch direkten Bombentreffer“ lautet die grausame Dokumentation ihres Todes.

Nur Propaganda: die Berichterstattung über den Luftangriff vom 21.06.1944. http://www.landesarchiv-berlin-viewer.de/kriegschronik-reichshauptstadt-berlin/index.html; Abrufdatum 12.10.2022
 

Berlin im Sommer 2022

Der 7. September 2022 ist ein wolkenverhangener Spätsommertag. Ich bin an der U-Bahn-Station Frankfurter Tor ausgestiegen und laufe den Boulevard der Karl-Marx-Allee mit seinen riesigen Wohnblocks entlang. Die Palisadenstraße ist nur eine Querstraße entfernt. Im „Umspannwerk Ost“ ein stylisches Restaurant, die bunten Fassaden der vierstöckigen Häuserzeile, zu der die Nummer 60 gehört, sind renoviert. Ein Wohnblock, dem man nicht ansieht, ob er nur renoviert oder wiederaufgebaut ist. Hier ist es passiert, hier wurden die Menschen von Trümmern erschlagen.

In der Nähe ein großer Friedhof. Ich laufe durch die Reihen der Gräber, viele von Opfern der Luftangriffe, aber Aufschriften mit den Namen von Käthe und Waltraud finde ich nicht. Wie Bruno haben sie keine Spuren hinterlassen.

Beenden könnte ich die Geschichte von Bruno, Käthe und Waltraud Krüger mit einem Appell gegen den Krieg, seine Sinnlosigkeit und Brutalität. Aber das ist wohl nicht notwendig. Das vergeudete Leben dreier Menschen, die grausam starben, spricht für sich. Käthe und Bruno Krüger haben das System, das sie letztendlich umgebracht hat, wie die meisten Deutschen auf die ein oder andere Weise mitgetragen, wie sehr, werde ich nicht herausfinden können. Das mindert mein Mitgefühl nicht, denn sie waren Teil meiner Familie. Ihre Geschichte festzuhalten, ist alles, was ich für sie tun kann.

Verwendete Literatur

Die 62. Infanterie-Division 1938-1944 Die 62. Volks-Grenadier-Division 1944-1945
Kameradenhilfswerk der ehemaligen 62. Division e.V. 1968

Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 5/1
Zentrum für Militärgeschichte 1988

Heimaturlaub – Soldaten zwischen Front, Familie und NS-Regime
Christian Packheiser 2020

Berlin 1933 – 1945, Stadt und Gesellschaft im Nationalsozialismus
Michael Willst, Christoph Kreutzmüller 2013

Luftangriffe auf Berlin, Die Berichte der Hauptluftschutzstelle 1940-1945
Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin, herausgegeben von Laurenz Demps, 2014

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