„Ich bin am 18.6.1882 geboren und somit in’s 78. Lebensjahr und in die Vorhalle der Vergänglichkeit eingetreten. Das Weltengeschehen würde wahrscheinlich anders verlaufen, wenn alle Menschen an ihre Vergänglichkeit dächten, aber während Körperkraft und impulsiver Lebensdrang junge Menschen von solchen Betrachtungen abhalten, drängen sie sich älteren Menschen, deren Lebenskraft von Tag zu Tag sinkt, umso eindringlicher auf.“
Karl Ellenberg leitete so keine philosophische Abhandlung oder Biografie seines ereignisreichen Lebens ein. Es war ein einfacher Brief an eine Stuttgarter Behörde. Karl Ellenberg schrieb diese Zeilen im Juli 1959 an das Landesamt für Wiedergutmachung, um einen mehr als zehn Jahre dauernden Kampf zu Ende zu bringen. Die deutschen Behörden hatten nur wenige Monate gebraucht, ihn wirtschaftlich zu ruinieren. Um das Unrecht auszugleichen, wenigstens ein bisschen, sollte der deutsche Staat mehr als ein Jahrzehnt benötigen. Aber Karl Ellenberg hatte überlebt und er hatte es geschafft, seine Familie aus Deutschland heraus und in Sicherheit zu bringen.
Vom „Ostjuden“ zum geachteten Stuttgarter Kaufmann
Als Karl Ellenberg am 18. Juni 1882 in Tarnorouda geboren wurde, trug er noch die Vornamen Kalman Hirsch und die ersten Worte, die er hörte, dürften jiddische gewesen sein. Heute liegt Tarnorouda in der West-Ukraine. Damals war der Ort einer der östlichsten Außenposten Österreichisch-Galiziens, nur vom Fluss Sbrutsch getrennt vom Russischen Kaiserreich und der Stadt gleichen Namens auf der anderen Uferseite. Knapp 750 Menschen lebten im links des Flusses gelegenen Tarnorouda und die Hälfte von ihnen waren Jüdinnen und Juden.1https://kehilalinks.jewishgen.org/suchostaw/sl_tarnoruda.htm Ein Stetl, weit entfernt von jeder Anatevka-Romantik. Die Familien waren meist bitterarm und wer dem Elend entfliehen wollte, der musste auch Tarnorouda hinter sich lassen.
Kalman Ellenberg entschied sich, sein Glück in einer größeren Stadt zu suchen. Vermutlich wählte er Podwolocyska, eine 20 Kilometer nördlich ebenfalls am Fluss gelegene Grenzstadt, die durch die Eisenbahn innerhalb kurzer Zeit zum Handelsknotenpunkt geworden war. Sein Name taucht am 3. Dezember 1902 im Wiener Jüdischen Volksblatt auf – ein Karl Ellenberg aus Podwolocyska hatte für die Errichtung eines Denkmals gespendet.2Jüdisches Volksblatt, Nr. 49 3. Dezember 1902, S. 7
Podwolocyska hatte sich zu einem der bedeutendsten Umschlagplätze für südrussische Güter entwickelt. Wer Geschäfte sowohl mit dem russischen Reich als auch den Staaten Mitteleuropas machen wollte, der war in der galizischen Grenzstadt an der richtigen Stelle. Vielleicht etwas hochgegriffen für einen Ort mit 5000 Einwohnern nannte sich das Städtchen Klein-Paris in Ostgalizien.3https://kesten.de/station/podwoloczyska/podwoloczyska/ Ganz und gar realistisch war aber die wachsende Bedeutung von Podwolocyska für den Eierhandel. Auf die Eierbörse der Stadt blickte der Handel in ganz Europa – hier legte man die Eierpreise fest und telegraphierte sie täglich in die weite Welt, an die Börsen von Berlin und London.4https://de.wikipedia.org/wiki/Pidwolotschysk
Ein idealer Ort für Kalman Ellenberg, eine Karriere im Eierhandel zu beginnen. Vielleicht inspirierte ihn sein künftiger Kompagnon Chaim Kesten, dessen Familie 1904 von Podwolocyska nach Nürnberg auswanderte,5https://kesten.de/station/podwoloczyska/die-vorfahren/ in dieser Branche sein Glück zu finden. Noch hieß Karl Ellenberg offiziell Kalman und es gibt auch keinen Nachweis, dass er in Podwolocyska in den Eierhandel einstieg. Gesichert ist aber, dass er am 3. April 1907 als Kompagnon der Firma Ellenberg und Kesten, einer „Eierhandlung en gros“, ins Handelsregister Stuttgart eingetragen wurde.6Handelsregister-Akten, Stadtarchiv Stuttgart
Eier aus Galizien
Der Appetit der Deutschen auf Eier stieg im beginnenden 20. Jahrhundert stetig – wurden im Jahr 1883 noch knapp 57 Eier pro Person und Jahr konsumiert, so waren es 1930 schon 150.7Der Verzehr von Nahrungsmitteln in Deutschland pro Kopf und Jahr seit Beginn der Industrialisierung, S. 240 Die deutschen Geflügelzüchter konnten diesen Bedarf nicht mehr decken. Zwischen 1883 und 1900 wuchs die Einfuhr von Eiern aus dem Ausland um mehr als das siebenfache.8 http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Geflügelzucht Ein guter Teil dieser Importe kam aus dem überwiegend agrarisch geprägten Galizien. Viele galizische Juden zog es ins Deutsche Reich, wo sie sich auf den Eierhandel spezialisierten. Trotz der langen Transportwege konnten ostjüdische Händler die Preise für Eier aus Deutschland mit ihrer Importware unterbieten. Dafür nutzen sie ihre Kontakte zu Landwirten und Kaufleuten in ihrer Heimat, bei denen sie die Ware sehr günstig einkaufen konnten.9Simon Adler, Eierhändler in Berlin, S. 36
Der schwunghafte Handel mit Eiern verschaffte den galizischen Kaufleuten Wohlstand – so auch Karl Ellenberg. Er setzte zudem auf hohe Qualität. Die steirischen Eier, die er im Angebot hatte, rangierten auf Platz 1 der österreichisch-ungarischen Qualitätsskala, weit vor den ostgalizischen.10Der internationale Eierhandel, S. 28 Und diese Strategie schien aufzugehen. Nach dem Ausscheiden von Chaim Kesten und dem Einstieg des Offenburger Kaufmanns Ludwig Haueisen im März 1909 wurde das Portfolio der Firma erweitert. Jetzt war auch Butter im Angebot.
Anzeigen aus Stuttgarter Tageszeitungen zwischen 1909 und 1914
Ei ist nicht gleich Ei. In Wasser und Löschkalk eingelegt waren Kalkeier mehrere Monate haltbar. Ganz frische Eier verzehrte man roh als Trinkeier. Suppeneier waren nur mittelgroß und die stark mit Hühnerkot verunreinigten Schmutzeier nur kurz haltbar.
Der Erste Weltkrieg stürzte die Wirtschaft in die Krise. Die Versorgung mit Lebensmitteln in Deutschland funktionierte nicht mehr, Lebensmittel wurden zwangsbewirtschaftet, die Preise amtlich festgelegt und Vorräte beschlagnahmt. Eine harte Zeit für Bevölkerung und Handel, die mit dem Ende des Krieges noch nicht vorbei war. Die Rationierung für Eier endete erst 1919.11https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/alltagsleben/hunger-und-elend.html#:~:text=Die%20Lebensmittelrationierung%20wurde%20nach%20dem,%2C%20Getreide%2C%20Butter%20und%20Milch Als Reaktion auf den Wegfall der Eierzwangsbewirtschaftung schlossen sich die Eierhändler im Südwesten 1920 zur „Vereinigte Eierimporteure Württemberg GmbH“ zusammen.12Schwäbische Tagwacht 07.09.1920 S.6 Als einen ihrer Geschäftsführer bestimmten sie Karl Ellenberg.13Stuttgarter Neues Tagblatt 24.06.1920, S. 6
Und auch seine eigene Firma steuerte Karl Ellenberg sicher durch die harten Zeiten. Sie überstand Inflation und Krieg und gehörte bald zu den bedeutendsten württembergischen Eierimportfirmen14Stellungnahme von Georg Schwab vom 14.11.1951 in Entschädigungsakte: „Die Fa. Ellenberg ist mir aus den Angaben meines Vaters bekannt und ich weiss, dass sie als eine der bedeutenden württembergischen Eierimportfirmen gegolten hat.“, die auch bei Banken einen hervorragenden Ruf hatte.15Stellungnahme der Deutschen Bank vom 25.08.1959 in Entschädigungsakte: „Die Firma Ellenberg zählte zu den guten und vertrauenswürdigen Kunden der Deutschen Bank Filiale Stuttgart. Sie tätigte größere Umsätze. In Stuttgart gab es vor dem Kriege ca. zehn bedeutende Eierhändler. Nach dem Umfang ihrer Umsätze dürfte die Firma Karl Ellenberg ungefähr an sechster Stelle gelegen sein.“
Bürger, Jude und Familienvater
Die Grenzen der Religion verwischten sich im Wirtschaftsleben zunehmend. Karl Ellenbergs neuer Kompagnon Ludwig Haueisen war kein Jude. Bei den Vereinigten Eierimporteuren arbeiteten Juden und Nichtjuden Seite an Seite. Doch der Antisemitismus war tief verankert in der Gesellschaft, „galizischer Eierjude“ galt als gängige Beleidigung, die schon Anfang des 20. Jahrhunderts Verwendung fand.16Jüdische Rundschau 21.01.1926 Doch Karl Ellenberg stand zu seiner Religion ebenso wie zu seiner neuen Heimat. 1918 spendete er Blumen für den städtischen Hilfsausschuss – in illustrer Gesellschaft von Kommerzien-Räten, Direktoren und Dr. Robert Bosch.17Stuttgarter Neues Tageblatt 18.06.1918, S. 284 Regelmäßige finanzielle Gaben an die jüdische Gemeinde waren für ihn ebenso selbstverständlich.18z.B. Gemeindezeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs 18.01.1933, S.1 Viele Jahre war er Mitglied der Chewra Kadischa, des jüdischen Beerdigungsvereins.19Jüdisches Gemeindeblatt für die Israelitischen Gemeinden in Württemberg 15. April 1938 Nur die angesehensten Männer der Gemeinde durften die Sterbenden begleiten und die Angehörigen trösten.
Karl Ellenberg drängte es, voll und ganz zur Stuttgarter Stadtgesellschaft zu gehören, ein anerkannter und gleichgestellter Bürger zu sein. Am 15. Juni 1929 wurde ihm die Württembergische Staatsangehörigkeit verliehen.20Antrag auf Ausstellung eines Reisepasses in Passakte Und auch seinen Vornamen, der auf seine Herkunft hinwies, wollte er ablegen. Statt Kalman Hirsch nannte er sich schon lange Karl. Offiziell bestätigt wurde die Namensänderung durch Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 9. Juli 1932.21Randvermerk Heiratsregister Stuttgart Nr. 115/1923
Mittlerweile hatte Karl Ellenberg auch geheiratet, vermutlich seit 1910 war Frieda Steindecker aus Fürth seine Frau.22Stuttgarter Neues Tagblatt 02.06.1910: Verlobung Juni 1910, Schwäbischer Merkur 26.08.1910: Aufgebot August 1910
1913 wurden ihre Tochter Ruth,23Karteikarte des Königin-Olga-Stifts Stuttgart 1916 die kleine Edith in Stuttgart geboren.24Karteikarte des Königin-Olga-Stifts Stuttgart Die Familie wohnte in der Kasernenstraße, der heutigen Leuschnerstraße, am Rande des Hospitalviertels und nicht weit entfernt von der prächtigen Stuttgarter Synagoge.25Stuttgarter Adressbücher 1911-1917 Mit dem Familiennachwuchs war jetzt die Zeit gekommen, die Stadtwohnung gegen eine kinderfreundlichere Unterkunft zu tauschen.
Ein Haus im Westen
Die Hasenbergsteige im Stuttgarter Westen galt schon im 19. Jahrhundert als exzellente Wohnlage. Fabrikanten, Verleger und Architekten bauten sich hier ihre Villen, Künstler residierten in den prachtvollen Häusern. Im unteren Teil der Steige säumen noch heute mehrstöckige Wohnhäuser aus der Gründerzeit die breite Straße. Parallel zur Straße aufgereiht bilden sie eine fast geschlossene Front.
Nur ein Haus sperrt sich keck der Ordnung. Ein im Vergleich zu den Nachbarn niedriges Spitzdachhaus, schräg zur Straße, Gauben im Schwarzwaldstil, hölzerne Verzierungen am Giebel und ein Garten, der sich die Karlshöhe hinaufzieht. Der Gärtner Gottlieb Eberspächer hatte es Ende des 19. Jahrhunderts bauen lassen, Erdgeschoss, Obergeschoss, Dachgeschoss und ein kleines Türmchen.26Bauakte Ein großer Garten gehörte zum Haus, nicht selbstverständlich im schon damals dichtbesiedelten Stuttgarter Westen. Ruth Ellenbergs Schulfreundin Lore erinnerte sich noch viele Jahre später an das Haus in der Hasenbergsteige, „in einem bevorzugten Wohnviertel“ und mit eben diesem „Garten, der das Haus umgab“.27Eidesstattliche Versicherung von Eleonore Heukeshoven vom 17.10.1957 in Entschädigungsakte Ruth Lewin, geb. Ellenberg Wie geschaffen für eine Familie mit zwei Kindern. 1917 kaufte Karl Ellenberg das Anwesen in der Hasenbergsteige 7.28Entschädigungsakte Karl Ellenberg
Doch dann fiel ein Schatten auf das glückliche Leben der Familie. Am 30. Dezember 1921 starb Frieda Ellenberg mit nur 37 Jahren. Ihre Töchter waren acht und fünf Jahre alt und Karl Ellenberg am Boden zerstört.
Die Kinder brauchten eine Mutter und der Vater eine Partnerin. Und die fand er in Betty Offenbacher, die wie Frieda aus Fürth kam. Nach Ablauf des Trauerjahrs gaben sich Karl Ellenberg und Betty Offenbacher am 1. Februar 1923 in Stuttgart das Ja-Wort.29Standesamt Stuttgart, Heiraten 1923/115
Ab jetzt musste es bergauf gehen. Der Krieg war vorbei, die Familie wieder komplett und alle lebten in einem schönen Haus mit großem Garten. Die Töchter Ruth und Edith gingen auf die Höhere Schule – das Königin-Olga-Stift in der Johannes-Straße im Stuttgarter Westen.30Die Karteikarten der beiden Schülerinnen sind bis heute im Königin-Olga-Stift archiviert. Vor allem Ruth war blitzgescheit – sie war die beste Schülerin ihres Jahrgangs, so gut, dass sie die siebte Klasse übersprang.
Ruth hatte einen Traum – sie wollte Nationalökonomie studieren und Dozentin werden. Ein Wunsch, dessen Erfüllung nicht unwahrscheinlich erschien, bei ihren Noten und den finanziellen Möglichkeiten ihres Vaters. Edith war eher praktisch veranlagt. Sie wechselte nach der achten Klasse auf die Höhere Mädchenhandelsschule in der Rotebühlstraße, die heute als Wirtschaftsgymnasium West weiterbesteht.31Karteikarte des Königin-Olga-Stifts Stuttgart
Karl Ellenberg hatte es geschafft – er war in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft Stuttgarts angekommen, beruflich erfolgreich, gut situiert, allseits anerkannt und geachtet, seinen Töchtern würde er alles bieten können. Er hatte das getan, was die deutsche Gesellschaft von einem „Ostjuden“ erwartete – er hatte sich angepasst und eingefügt. Gleichzeitig schürte der Erfolg seiner harten Arbeit Neid und nährte das stereotype Vorurteil vom kapitalistischen Juden. Eine Mixtur, die lebensgefährlich werden sollte.
Die Ausplünderung
Schon 1932 wurden die Vorzeichen der dunklen Zeiten in der Familie Ellenberg spürbar. Ruth Ellenberg hatte ihr Abitur gemacht, mit Leichtigkeit und guten Noten. Aber der Antisemitismus lauerte bereits seit Jahren an den Universitäten, nicht nur, aber auch im Südwesten. An der Universität Heidelberg bekam im Januar 1925 ein Antrag in der studentischen Vollversammlung, Juden das Stimmrecht zu entziehen, da auf der Tagesordnung nur rein deutsche Themen stünden, starken Beifall.32Juden an der Universität Heidelberg, S. 149 http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/13683/1/juden_hd.pdf Die Leitung der Universität Tübingen erklärte 1922, dass man „wenn irgend möglich, rassefremde Ausländer (namentlich Ostjuden) nicht zulässt“.33Juden an der Universität Tübingen im Nationalsozialismus https://uni-tuebingen.de/fileadmin/Uni_Tuebingen/Allgemein/Dokumente/2006/06-01-19AkUniimNS.pdf
Ruth wollte sich dem nicht aussetzen und entschloss sich, zunächst eine Ausbildung als kaufmännischer Lehrling in der Bücherabteilung des Stuttgarter Kaufhauses Schocken zu machen.34Eidesstattliche Versicherung Ruth Lewin vom 15.09.1957 in Entschädigungsakte Ruth Lewin, geb. Ellenberg Eine gute Vorbereitung auf ein wirtschaftswissenschaftliches Studium und noch hoffte sie darauf, dass sich die politische Lage zum Besseren entwickeln würde.
Die persönliche Krise durch den Tod seiner Ehefrau hatte Karl Ellenberg überstanden. Eine schlimmere wirtschaftliche Krise als Krieg, Zwangswirtschaft und Inflation war für ihn kaum denkbar. Und all das hatte er souverän gemeistert. Zudem war da auch noch das Haus, ausgestattet, wie „gut situierte Bürgerhäuser in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausgestattet waren“.35Entschädigungsakte Karl Ellenberg Betty hatte „reichlich Kult- und Hausgeräte in die Ehe mitgebracht“.36Entschädigungsakte Karl Ellenberg Was sollte der Familie wirtschaftlich schon passieren?
Zuerst nahmen sie ihm das Geschäft.
Antisemitische Anfeindungen hatte es immer gegeben. Aber mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde aus Einzelfällen ein zerstörerisches System. Am 1. April 1933 begann der „Judenboykott“. „Die Juden sind unser Unglück“, titelte die NS-Tageszeitung für Württemberg und Hohenzollern. Verbunden mit der Warnung, diese „Vernichter von Handwerk und Mittelstand“ zu meiden, waren alle jüdischen Betriebe in Stuttgart aufgelistet. Darunter auch die Eierhandlung von Karl Ellenberg.
Jetzt ging es Schlag auf Schlag. Im Dezember 1933 erließen die Nationalsozialisten das „Gesetz über den Verkehr mit Eiern“ und dazugehörige Verordnungen.37Gesetz über den Verkehr mit Eiern vom 20. Dezember 1933, RGBl. I, 1094 f., Verordnung über die Regelung des Eiermarktes vom 21. Dezember 1933, RGBl. I, 1103 f., Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über den Verkehr mit Eiern vom 21. Dezember 1933, RGBl. I, 1104 ff. Ab jetzt kontrollierte die „Reichsstelle für Eier“ den Eiermarkt und die Preise. Was die jüdischen Eierhändler besonders traf und ganz gezielt treffen sollte: die Einfuhr von Eiern aus dem Ausland war künftig nur noch unter strenger Aufsicht der Reichsstelle für Eier möglich.38VG Berlin, Urteil vom 24.09.2015 – 29 K 187.13, Rdnr. 29 Und damit zunehmend unmöglich. Nicht ganz unbeteiligt an der Neuordnung des Eiermarktes war ein junger Tierarzt, der es zum Leiter der Eierüberwachung des Reichsnährstandes brachte.39Der Eiermarkt in Westfalen und Lippe, S. 86, Simon Adler, Eierhändler in Berlin S.40 f. Dieser Bernhard Grzimek sollte später der Lieblings-Tieronkel der Deutschen werden, sich über seine Rolle im System der Nationalsozialisten aber stets bedeckt halten.40https://fzs.org/de/ueber-uns/geschichte/bernhard-grzimek/
Den jüdischen Eierhändlern wurden 1934 vorläufig noch begrenzte Einfuhrkontingente aus dem Ausland zugeteilt.41Georg Schwab Stellungnahme 14.11.1951 in Entschädigungsakte Karl Ellenberg Die Gründung der „Hauptvereinigung der deutschen Eierwirtschaft“ im November 193542Verordnung über den Zusammenschluss der deutschen Eierwirtschaft vom 22. November 1935, RGBl. I, 1355 ff. bedeutete dann das Ende des jüdischen Eierhandels. „Von da an wurde die Auslandsware nicht mehr in Form von Einfuhrkontingenten den Eiergrosshändlern zugeteilt, sondern von der Reichsstelle grösstenteils selbst eingeführt und über die Hauptvereinigung der deutschen Eierwirtschaft Berlin an den Handel weiterverkauft und zwar nur an den nichtjüdischen Handel“, schrieb Georg Schwab, Inhaber eines Stuttgarter Eiergeschäfts.43Georg Schwab Stellungnahme 14.11.1951 in Entschädigungsakte Karl Ellenberg Entsprechend jubelte der „Der Angriff“ im April 1935 unter der Überschrift „Wieder arische Ostereier“, Ostern 1935 werde man endlich Gewissheit haben, dass die „Ostereier auf dem Wege zu uns nur durch arische Hände gegangen sind“.44Der Angriff, 10. April 1936 Am 13.12.1935 gab es in Stuttgart keine jüdischen Eierhändler mehr.45Jüdische Rundschau 13.12.1935 „In einem Säuberungsprozess, der an Tempo und Totalität kaum seinesgleichen findet, hat der deutsche Eierhandel sich selbst von den jüdischen Schmarotzern befreit“, fasste das „Adressbuch des deutschen Eierhandels“ 1938 die wirtschaftliche Existenzvernichtung stolz zusammen.46Adreßbuch des deutschen Eierhandels April 1938, S. 7 Karl Ellenberg hatte kein Einkommen mehr.
Dann stahlen sie seinen Töchtern die Zukunft.
Ruth Ellenberg hatte ihre Lehre im Kaufhaus Schocken im April 1934 beendet. An ein Studium war jetzt nicht mehr zu denken. Deshalb blieb sie „beim Schocken“ und arbeitete als Verkäuferin in der Bücherabteilung. Die Gleichschaltung des Buchhandels erfolgte im November 1933 mit der Gründung der Reichsschrifttumkammer als Teil der Reichskulturkammer. Ab jetzt mussten nicht nur alle Kulturschaffenden Mitglied werden, sondern auch alle, die mit dem Vertrieb von Kulturgut befasst waren.47Die nationalsozialisitische Schrifttumspolitik nach dem 10. Mai 1933, S. 47 Bis zum Ausschluss der Juden aus der Reichskulturkammer dauerte es dann nicht mehr lange. Anfang 1935 durften Jüdinnen und Juden nicht mehr im Buchhandel arbeiten.48Die nationalsozialisitische Schrifttumspolitik nach dem 10. Mai 1933, S. 54 „Da Sie jüdischer Abstammung sind, halte ich sie nicht für geeignet, in einem kulturvermittelnden Beruf tätig zu sein“, lautete die gängige Formulierung.49Die nationalsozialisitische Schrifttumspolitik nach dem 10. Mai 1933, S. 56 Das jüdische Kaufhaus Schocken legte Ruth nahe, jetzt an Auswanderung zu denken.50Eidesstattliche Erklärung Ruth Lewin 15.09.1957 in Entschädigungsakte Ruth Lewin, geb. Ellenberg Auch für Edith Ellenberg, die nach dem Besuch der Höheren Mädchenhandelsschule wahrscheinlich im Betrieb des Vaters gearbeitet hatte, gab es in Deutschland keine Zukunft mehr. Die Schwestern gingen auf „Hachschara“ – sie absolvierten eine landwirtschaftliche Ausbildung speziell für junge Jüdinnen und Juden, die auswandern wollten. Auf Gut Winkel in Brandenburg, einem Lehrgut, das Ruths früherer Arbeitgeber Salman Schocken gegründet hatte, fanden beide Aufnahme. Ruth zog im Oktober 1935 nach Gut Winkel, Edith folgte ihr im Mai 1936.51Liste Deutschland, jüdische „Trainings“-Zentren, Lehrgut Winkel 30.09.1936
Dann nahmen sie ihm das Haus.
Das zurückgelegte Geld wurde immer knapper. Karl Ellenberg war gezwungen, das Haus in der Hasenbergsteige aufzugeben. Am 16.04.1936 musste er die Villa für 25.000 Reichsmark verkaufen, weniger als die Hälfte des eigentlichen Werts.52Entschädigungsakte Karl Ellenberg Ein Schleuderpreis für das schöne Haus, das Karl und Betty Ellenberg verlassen mussten, das Haus, in dem sie viele Jahre mit den Töchtern glücklich waren und vermeintlich dazu gehörten, zum Stuttgarter Bürgertum. In der neuen Wohnung im 2. Stock des Hauses Militärstraße 47, heute Breitscheidstraße, hatte die Stadtgesellschaft nur noch Verachtung für sie übrig. Weil sie einstmals erfolgreich und weil sie Juden waren.
Dann stahlen sie das Geld, das noch übrig war.
Zwei Jahre schlugen sich Karl und Betty Ellenberg mit ihren Ersparnissen durch, bis sie endlich die Einreisegenehmigung für Palästina bekommen konnten. 22.400 Reichsmark Reichsfluchtsteuer verlangte der Staat, der sie loshaben wollte. Die Gebühren der „Packgenehmigung“ für die paar Sachen, die sie mitnehmen durften, betrug 4000 Reichsmark. Von den 12.500 Reichsmark, die Karl Ellenberg nach Palästina transferierte, strich die Deutsche Golddiskontbank über die Hälfte als Abschlag beim Devisenverkehr ein. Dazu die Reisekosten, Kosten für den „Lift“, in dem sich ihre Sachen befanden und das „Vorzeigegeld“ für Palästina – das Vermögen, das sich Karl Ellenberg hart erarbeitet hatte, war weg.53Entschädigungsakte Karl Ellenberg
Und zuletzt plünderten alle.
Dann traf es die letzten Wertgegenstände. Jeder griff zu, der Staat und seine Helfershelfer. Am 15.03.1938 wurde der „Lift“, die Transportbox für Palästina, unter Aufsicht von zwei Zollbeamten beladen. Zur Begutachtung der Wertgegenstände wurde ein vermeintlich amtlicher Schätzer, ein „Taxator aus der Olgastraße“ gerufen, „der fast die gesamten echten Bestecke ausschied und mitnahm“. Wahrscheinlich steckte er die wertvollen Gegenstände in die eigene Tasche, denn sie tauchten später auf keiner offiziellen Liste mehr auf. Klarer Fall für die deutschen Behörden 15 Jahre später: eine Entschädigung für das Silberbesteck könne nicht gewährt werden, da es sich hierbei nicht um einen staatlichen Akt gehandelt hätte.54Entschädigungsakte Karl Ellenberg
Am 21. März 1939 löschten die Behörden die Firma Karl Ellenberg in Stuttgart. Auch hier traten sie nochmal nach. „Da es sich bei dem Firmeninhaber um einen Juden handelt und dieser aus dem deutschen Wirtschaftsleben auszuschalten ist, kann von der Benachrichtigung desselben von der beabsichtigten Löschung der Firma nach § 141 FGG abgesehen werden.“, verfügte das Amtsgericht Stuttgart 1.55Verfügung des Amtsgerichts Stuttgart 1 vom 04.05.1939, Handelsregisterakte S. 18
Karl Ellenberg hatte tatenlos mitansehen müssen, wie sein Lebenswerk zugrundegerichtet und die Zukunft seiner Töchter ruiniert wurde. Wehren konnte er sich nicht, „weil ich unter dem bedrückenden Gefühl litt, dass ich rechtlos und der Willkür ausgeliefert bin.“56Entschädigungsakte Karl Ellenberg Vielleicht verschaffte es ihm wenigstens Genugtuung, dass er seine Frau und seine Töchter in Sicherheit bringen konnte.
Der Neuanfang
Edith Ellenberg war die erste, der die Auswanderung nach Palästina glückte. Am 7. März 1938 erreichte sie Haifa.57Einbürgerungsakte Edith Ellenberg Kurz danach verließen Karl und Betty Ellenberg Deutschland. In Triest nahmen sie den Dampfer Galilea, der sie nach Haifa brachte. Am 28. März 1938 konnten sie Edith dort in die Arme schließen. Ihre neue Heimat fanden sie in Tel Aviv.58Einwanderungsakte Edith Ellenberg. Ruth Ellenberg sollte die Einwanderung erst im Dezember 1940 gelingen.59Eidesstattliche Versicherung Erich Lewin 21.02.1958 in Entschädigungsakte
In Palästina und später Israel kam Karl Ellenberg wirtschaftlich nicht mehr auf die Beine. Er war jetzt Mitte 50, er hatte all seine Kraft in das Unternehmen gesteckt, dessen Niedergang er hilf- und rechtlos mitansehen musste. „Der Antragsteller lebt in dürftigen Verhältnissen. Seit der Auswanderung bestreitet er in Israel seinen Lebensunterhalt von Ersparnissen, Verwandtenunterstützung und aus geringen Einkünften durch gelegentliche Büroarbeiten“, schrieb sein Anwalt in den Fünfzigerjahren. Bis 1959 kämpfte Karl Ellenberg mit den deutschen Behörden um eine Entschädigung. Häppchenweise erhielt er Zahlungen und 1956 dann auch endlich eine Rente, aber nichts, was ihm auch nur annähernd den Lebensstandard vor 1933 ermöglichte. Das Unrecht, das er durch den Verlust der Firma, den Verkauf des Hauses weit unter Wert und den Diebstahl seines sonstigen Eigentums erlitten hatte, wurde nur zu einem kleinen Teil und nach immensem bürokratischen Kampf finanziell entschädigt.60Entschädigungsakte Karl Ellenberg
Auch das Haus bekam Karl Ellenberg, so wie viele jüdische Eigentümer, nicht zurück. Auf eine Klage verzichtete er und einigte sich mit den neuen Besitzern im Wege des Vergleichs auf eine Entschädigungszahlung.61Entschädigungsakte Karl Ellenberg Denn Karl Ellenberg konnte nicht abwarten, bis ein Gericht entschied. Ihm lief die Zeit davon, er war jetzt über 70, ohne Einkommen und brauchte jeden Pfennig. Am Ende reichte es für einen Lebensabend in einem Altersheim in Haifa, in der Nähe seiner Tochter Edith. Seine 1946, 1949 und 1951 in Israel geborenen Enkelkinder konnte er noch kennenlernen. Seine Tochter Edith starb 1967 mit nur 50 Jahren in Haifa.62Windmueller Family Chronicle, S. 141
Die Geschichte ihrer Schwester Ruth Ellenberg, die den Schivelbeiner Kaufmannssohn Erich Lewin heiratete, hat mich erst auf die Spuren der Familie Ellenberg gebracht. Ihr langer Weg von Stuttgart über Schweden in einen Kibbutz in Galiläa habe ich in Der Traum vom Kibbutz – Familie Lewin aus Schivelbein beschrieben.
1951 besuchte Karl Ellenberg das zerstörte Stuttgart. An der Stelle, an der das Haus des diebischen Taxators in der Olgastraße gestanden hatte, fand er „nur einen Schutthaufen“ vor. 63Entschädigungsakte Karl Ellenberg Hatte Karl Ellenberg vorgehabt, wieder zurück nach Stuttgart zu ziehen? War es die Hoffnung, sein Haus zurückbekommen zu können oder wenigstens adäquat entschädigt zu werden? Oder hatte er sehen wollen, was geworden war aus dem Land, das Millionen Juden umgebracht, die Überlebenden traumatisiert und viele so wie ihn ruiniert hatte? Karl Ellenberg kehrte nie mehr dauerhaft nach Stuttgart zurück. Er starb am 25. September 1966 im Alter von 84 Jahren in Haifa.64Entschädigungsakte Karl Ellenberg
Literatur
Adreßbuch des deutschen Eierhandels: Handbuch und Anschriftenverzeichnis der Mitglieder der Fachschaft Eierverteiler im Reichsnährstand sowie der Eierkennzeichnungsstellen, Berlin 1938
Blotenberg, Johannes „Der Eiermarkt in Westfalen und Lippe“, Dissertation an der Universität Marburg 1937
Dahm, Volker „Die nationalsozialisitische Schrifttumspolitik nach dem 10. Mai 1933“ in Walberer, Ulrich (Hrsg.) „10. Mai 1933, Bücherverbrennung in Deutschland und die Folgen“, S. 36 ff., Frankfurt a.M 1983
Sonndorfer, Rudolf „Der internationale Eierhandel“, Wien 1909
Steinke, Karoline „Simon Adler, Eierhändler in Berlin“ Berlin 2011
Teuteberg, Hans Jürgen „Der Verzehr von Nahrungsmitteln in Deutschland pro Kopf und Jahr seit Beginn der Industrialisierung (1850 – 1975), Versuch einer Quantitativen Langzeitanalyse„, Münster 1988
Windmueller Horowitz, Inge, Horowitz, Rita Janet, Stein Windmueller, Ida „Windmüller Family Chronicle„, 1981
Akten aus Archiven und Internetportale
aus dem Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg:
Stuttgarter Passakten 1914-1944, F 215 Bü 312
Entschädigungsakte Karl Ellenberg: Landesamt für die Wiedergutmachung Baden-Württemberg: Einzelfallakten / ca. 1945-2021, EL 350 I Bü 26347
Amtsgericht Stuttgart: Handelsregisterakten / 1865-1938, Haueisen & Ellenberg, Stuttgart – Eiergroßhandel, Staatsarchiv Ludwigsburg F 303 II Bü 448
aus dem Stadtarchiv Stuttgart:
Bauakte Hasenbergsteige 7
aus dem Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden:
Entschädigungsakte Ruth Lewin geb. Ellenberg: Regierungspräsidium Wiesbaden, 1956-1974, HHStAW Bestand 518 Nr. 82341
Entschädigungsakte Erich Lewin: Regierungspräsidium Wiesbaden, 1956-1974, HHStAW Bestand 518 Nr. 81792
von MyHeritage:
Einbürgerungsakte Edith Ellenberg, Mandat zur Einbürgerung in Palästina, 1937-1947
Einbürgerungsakte Ruth Lewin, geb. Ellenberg, Mandat zur Einbürgerung in Palästina, 1937-1947
Einbürgerungsakte Karl Ellenberg, Mandat zur Einbürgerung in Palästina, 1937-1947
Liebe Julia,
Deine Beschreibungen von individuellen Schicksalswegen der Menschen verdeutlicht das Böse im Alltag auf sehr einringliche Weise. Ich hätte mir nicht vorstellen können dass Universitäten schon Anfang der 1920er Jahre begonnen haben Studierende aufgrund der Tatsache, dass sie jüdischen Glaubens waren, zu diskriminieren. Geschichte wird durch deine Berichte anschaulich, sie ist in unserer Mitte.