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Rabbiner Karl Richter um 1935, mit freundlicher Genehmigung von Esther Blumenfeld Richter

Der Schivelbeiner Rabbi aus Stuttgart

Eine Tragödie und ein Entschluss

März 1927. Schulschluss in der Römerschule im Stuttgarter Süden. Nach dem Läuten der Schulglocke schwillt der Lärmpegel an, laute Stimmen, Rufen, Lachen, das Scharren von Stühlen auf dem Holzboden, das Trappeln von Füßen in den Fluren. Dann öffnet sich die Eingangstür und die Erstklässler strömen nach draußen, die ledernen Tornister auf dem Rücken. Verabredungen für den Nachmittag werden gemacht. Aber erst heim, die Mutter wartet mit dem Mittagessen.

Römerschule Stuttgart
Die Römerschule in Stuttgart (eigenes Bild)

Edith Richter ist gerade sieben Jahre alt geworden, vor zwei Wochen. Sie springt die Treppen des Schulgebäudes hinunter, umringt von anderen Kindern, die sich gemeinsam auf den Heimweg machen. Eine knappe Viertelstunde Fußweg bis zur Wohnung ihrer Eltern in der Schlosserstraße 5a. Sie kennt den Weg und sie weiß, dass sie aufpassen muss. Nicht einfach über die Straße laufen, ein Blick nach links, nach rechts und noch mal nach links, wie es ihr die Eltern beigebracht haben. Alle Kinder wissen das, denn alle laufen allein zur Schule und zurück. Schnell erreicht Edith die Heusteigstraße, noch ein kleines Stück bis zur Weißenburgstraße und dann ist es nicht mehr weit bis zum unteren Ende der Schlosserstraße, in der sie wohnt. Sie freut sich auf das Mittagessen, ihre Schwester Ruth wird da sein und vielleicht schafft es auch ihr großer Bruder Karl, der das Gymnasium nicht weit von hier besucht. Immer mehr Autos gibt es in Stuttgart, sie knattern und stinken und die Fahrer sehen kleine Mädchen nicht immer. Aber hier auf dem Trottoir kann ihr nichts passieren. Und wenn mal ein Auto aus einer der Durchfahrten der großen Häuser vom Hinterhof auf die Straße fahren will, dann hört sie das Brummen und riecht den Schwall der Abgase früh genug.

Weißenburgstraße in Stuttgart
An der Weißenburgstraße in Stuttgart (eigenes Bild)

Der Elektrokarren einer Brauerei1Auskunft von Ari Richter, Enkel von Karl Richter, der den Hof in der Weißenburgstraße verlässt, trifft sie mit voller Wucht. Vielleicht ist es der Fahrer selbst, der aus dem Auto herausstürzt, den leblosen Körper des Kindes unter dem Wagen hervorzieht, verzweifelt ruft, man brauche einen Arzt, einen Krankenwagen. Beteuert, dass er sie nicht sehen konnte, wie sie da auf dem Bürgersteig lief und er aus der Einfahrt zurücksetzte. Edith Richter wird ins Marienhospital gebracht. Ihre Eltern Samuel und Josefine eilen verzweifelt herbei, die verstörten Geschwister Ruth und Karl hinter sich herziehend. Aber für Edith kommt die Hilfe zu spät – sie stirbt an ihren schweren inneren Verletzungen. 

Stuttgarter Neues Tagblatt 18.03.1927, das angegebene Alter ist falsch

Edith Richter wird auf dem jüdischen Teil des Stuttgarter Pragfriedhofs beerdigt. 

Grab von Edith Richter auf dem Pragfriedhof in Stuttgart
„Hier ruht unser geliebtes Kind Edith Richter
geb. 2. März 1920 gest. 16. März 1927″ (eigenes Bild)

Die Eltern wollen es nicht glauben, können sich nicht damit abfinden, dass ihre kleine Tochter, das Kind, das nach der Not des Ersten Weltkriegs für den Aufbruch in eine neue, bessere Zeit stand, nicht mehr lebt. Wollen wenigstens wissen, warum Edith sterben musste. Sogar ein Detektiv wird eingeschaltet. Aber ob Samuel und Josefine Richter je Gewissheit erhalten haben, wer Schuld am Tod ihrer Tochter trug, ist nicht dokumentiert.

Stuttgarter Neues Tagblatt 23.04.1927, das Jahr des Unfalls ist falsch angegeben.

Ediths Bruder Karl ist 16 Jahre alt als seine kleine Schwester stirbt. Er fühlt nicht nur Trauer über den Verlust, seine Fragen gehen tiefer. Warum hat Gott das kleine Mädchen zu sich genommen? Hat ihr Tod irgendeinen Sinn? Und was ist eigentlich der Sinn des Lebens? Arzt wollte er werden, aber die Medizin hat Edith nicht helfen können. So reift in ihm der Entschluss: er will Antworten auf seine Fragen finden. Karl Richter beschließt, Rabbiner zu werden.

Der Beginn des 20. Jahrhunderts: Von Oberschlesien nach Württemberg

Als Samuel Richter Ende des 19. Jahrhunderts im oberschlesischen Bielitz-Biala im Ortsteil Komorowice geboren wurde, gehörte die Stadt an der Grenze zum heutigen Polen noch zu Österreich. Die Textilindustrie hatte den Wohlstand gebracht, Jugendstilvillen, elegante Einkaufsstraßen, große Tuchfabriken, fast wie in der Großstadt. „Klein-Wien“ nannte man Bielitz damals. Zwanzig Prozent der Bevölkerung waren Juden, die prächtige Synagoge an der Kaiser Franz Josef-Straße zeugte von einer aufstrebenden Gemeinde. Obwohl die Stadt von polnischsprachigen Gebieten umgeben war, sprachen die meisten Menschen und vor allem die jüdische Bevölkerung in der Bielitz-Bialer Sprachinsel2https://de.wikipedia.org/wiki/Bielitz-Bialaer_Sprachinsel deutsch. Samuels Vater Jacob betrieb eine kleine Werkstatt für Regenschirme, zusammen mit seiner Frau Hannah hatte er acht Töchter und Söhne. Sein Wohlstand war bescheiden, aber seine Kinder, die sollten es einmal besser haben.

Die Synagoge von Bielitz, gemeinfrei3skan z „Bielsko-Biała w starej fotografii“, Bielsko-Biała 1910, Synagoga i ul. 3 Maja, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

Josefine Pick, die viele Jahre später Samuels Frau werden sollte, wurde 1882 etwa 100 Kilometer südlich von Bielitz-Biala in Turocz geboren. In einer Region wechselnder Staatszugehörigkeiten war Turocz damals Teil des Königreichs Ungarn. Nach 1918 kam es zur Tschechoslowakei, heute liegt der Ort in der Slowakei. Die Sprache der Familie war aber deutsch. Josefines Vater Karl war Aufseher einer Sägemühle. Als sie vier Jahre alt war, änderte sich ihr Leben schlagartig: Karl Pick wurde von einem durchgehenden Pferd überrannt und starb mit gerade einmal 33 Jahren. Seine Frau Jeanette, Josefines Mutter, musste sich und die sechs kleinen Kinder jetzt alleine durchbringen. Sie wurde Hebamme und entschied sich, einen Neuanfang im wohlhabenden Oberschlesien zu versuchen, in Bielitz-Biala. Glück im Unglück für die Halbwaise Josefine: In ihrer neuen Nachbarschaft lebte der vier Jahre ältere Samuel und der hatte es ihr schon früh angetan. Sie wuchsen zusammen auf, sie mochten sich und sie verbrachten ihre Freizeit zusammen: Josefines Auftritt beim Stiftungsfest des Bialaer jüdischen Turnvereins als „graziöse Pferdeturnerin“ und Samuels anschließende Gesangseinlage sind dokumentiert.

Jüdische Turnzeitung – Monatsschrift für die körperliche Hebung der Juden, V. Jahrg. No. 1 Januar 1904 4https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/4923775

Josefine und Samuel verlobten sich, als sie 18 und er 22 war. Es sollte aber noch zehn Jahre dauern, bis sie endlich heiraten konnten. Samuels Familie war nicht begütert, er musste die Schule nach der achten Klasse verlassen und eine Arbeit annehmen. Aber Samuel war wissbegierig, fleißig, gesellig und beliebt – beste Voraussetzungen für eine Karriere als Verkäufer. Das Musikhaus des Hoflieferanten Levi Jakob in der Stuttgarter Innenstadt lockte Samuel Richter 1905 ins Schwabenland.5Bericht von Karl Richter in Lebenszeichen, Juden aus Württemberg nach 1933, S. 250 Fünf Jahre brauchte er, um sich hier eine Existenz aufzubauen. Und jetzt konnte endlich geheiratet werden. Am 2. Januar 1910 traute Rabbiner Dr. Markus Steiner Samuel Richter und Josefine Pick in Bielitz.6Trauungsmatrik des israelitischen Bielitzer Matrikenbezirks 1921, Folio 161 Am 5. Januar 1910 bezogen die beiden eine Wohnung im zweiten Stock der Schlosserstraße 5a im Stuttgarter Heusteigviertel. Zehn Monate später, am 31. Oktober 1910, kam ihr Sohn Karl auf die Welt.

Schlosserstraße 5 in Stuttgart
Schlosserstraße 5 in Stuttgart (eigenes Bild)

Eine jüdische Familie in Stuttgart

1910 lebten knapp 4300 Jüdinnen und Juden in Stuttgart.7Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden, S. 500 Die prächtige Synagoge im Hospitalviertel war am 3. Mai 1861 eingeweiht worden, auf dem Pragfriedhof gab es seit 1874 einen jüdischen Teil, das Bahnhof-Hotel betrieb ein koscheres Restaurant. Jüdische Warenhäuser wie das „Kaufhaus der Einheitspreise“ Kadep an der Ecke Tübinger/Kleine Königstraße, „Hermann Tietz“ in bester Lage in der Königstraße 27 und ab Ende der 1920er-Jahre das schönste Kaufhaus Deutschlands, der „Schocken“ in der Eberhardstraße8https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgarter-kaufhaus-schocken-eine-fuenfzig-jahre-alte-suende.71d11515-605d-41a8-ac21-110472b3e1e7.html, waren bestens besucht. Das Traditionsunternehmen Stuttgarter Hofbräu hatte einen jüdischen Direktor. Jüdische Politikerinnen und Politiker wie Thekla Kauffmann oder Fritz Elsas saßen im württembergischen Landtag, der Jude Berthold Heymann war Innenminister. Juden gehörten zum Stadtbild einfach dazu, trotz immer wieder aufkeimender antisemitischer Anfeindungen. Die gab es und die hatte es immer schon gegeben. Aber noch griff der Staat mehr oder minder engagiert ein, wenn es zu Angriffen gegen Eigentum, Leib und Leben jüdischer Bürgerinnen und Bürger kam. Noch galten die Gesetze für alle.

Das Leben der Richters ging den Gang einer ganz normalen Familie am Anfang des 20. Jahrhunderts. Samuel Richter war im Beruf erfolgreich, Josefine Richter sorgte für ein behagliches Zuhause, der kleine Karl tobte mit den Nachbarskindern durch die Hinterhöfe des Viertels. Mit den Nachbarn aus dem dritten Stock, dem Ehepaar Nikolaus und Bertha Heinl, er Katholik, sie Jüdin, verband die Familie bald eine herzliche Freundschaft. Diese sollte sich Jahre später als lebensrettend erweisen. Am Wochenende bot die Stadt mit den weinrebengefüllten Hängen beste Möglichkeiten für ausgiebige Spaziergänge. Von der Schlosserstraße aus war man damals wie heute in zwanzig Minuten auf einem der Hausberge Stuttgarts, dem Bopser, angelangt und konnte auf der Waldau stundenlang durch den Wald streifen. 

Bopser mit Fernsehturm in Stuttgart
Blick auf den Bopser mit Fernsehturm in Stuttgart (eigenes Bild)

Die Richters waren gläubige Juden, aber nicht orthodox. Samstags besuchten sie die Synagoge, die Kinder lernten Hebräisch. Jüdische Rabbis gaben genauso wie evangelische Pfarrer und katholische Priester den Religionsunterricht an den Schulen der Stadt. Noch war die Religion der Richters eine vom Staat akzeptierte.

Mitte 1914 kündigte sich erneut Nachwuchs in der Schlosserstraße 5a an: eine kleine Tochter war unterwegs. Die Freude über den Familienzuwachs währte nur kurz: am 1. August 1914 begann um sechs Uhr früh die General-Mobilmachung. Das Deutsche Reich hatte Russland den Krieg erklärt. Am 3. August 1914 rückten die Cannstatter Dragoner und das II. Bataillon der Olga-Grenadiere als erste Stuttgarter Truppen aus.9Stuttgart von Tag zu Tag 1900-1949, S. 39 Die jüdische Bevölkerung in Deutschland sah für sich die Chance gekommen, zu beweisen, dass sie unverzichtbarer Teil der deutschen Gesellschaft geworden war. Viele Juden meldeten sich freiwillig und zogen für das Deutsche Reich in den Krieg.

Für Samuel Richter bedeutete der Kriegsbeginn vor allem Abschied – von seiner Karriere als Kaufmann im Musikgewerbe, von seiner Frau, seinem Sohn Karl und seiner ungeborenen Tochter. Vier Jahre lang kämpfte er an der Front in Russland und Italien. 1935 erhielt er für seinen Einsatz das Ehrenkreuz für Frontkämpfer – „im Namen des Führers und Reichskanzlers“.

Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 350 I Bü 35312

Weniger Ehre als Hoffnung auf Überleben: Das „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“, von Paul von Hindenburg drei Wochen vor seinem Tod im August 1934 gestiftet, wurde nur auf Antrag des Betroffenen verliehen. Viele Juden erhofften sich, als ehemalige Frontkämpfer der staatlichen Entrechtung entgehen zu können. Mit dem Ehrenkreuz wollten sie dies beweisen. Das sogenannte Frontkämpfer-privileg schützte sie aber nur für kurze Zeit.10https://www.dw.com/de/eisernes-kreuz-und-dolchsto%C3%9Flegende/a-17758896

Wie überall in Deutschland mussten während des Krieges auch in Stuttgart die Frauen das Leben aufrechterhalten. Trotz der schwierigen Versorgungslage waren sie es, die ihre Kinder mit ausreichender Nahrung versorgten und die kämpfenden Männer im Berufsleben vertraten. Die Richters lebten fernab ihrer österreichischen Familie. Josefine, hochschwanger, wollte in diesen schweren Zeiten nicht alleine sein. Ihre ältere, noch ledige Schwester Luise beschloss, Josefine unter die Arme zu greifen und zog von Bielitz-Biala nach Stuttgart, in die Wohnung in der Schlosserstraße. Als am 2. März 1915 die kleine Ruth auf die Welt kam, war Josefine zwar ohne Mann, aber nicht allein. Die Schwestern Pick sorgten für das Überleben der Familie. Josefine fuhr zu den Bauern der Umgebung, um Obst oder ein Stückchen Butter zu ergattern, Luise verdiente als Änderungsschneiderin das notwendige Geld. Aber die Zeiten waren bitter. Ab März 1915 gab es Brot nur noch auf Brotkarten. Auch andere Lebensmittel wurden drastisch rationiert. Der Steckrübenwinter 1916/17 führte dann zu einer Hungersnot. Und am 15. September 1918 rückte der Krieg besonders nah an die Familie Richter heran – durch einen englischen Fliegerangriff wurden nur ein kleines Stück von der Schlosserstraße entfernt in der Heusteigstraße elf Menschen getötet.11Stuttgart von Tag zu Tag 1900-1949, S. 44 Und dazu die bange Frage, ob Samuel heil aus dem mörderischen Krieg zurückkehren würde.

Im November 1918 hatte die Angst ein Ende: der Krieg war vorbei und Samuel kam wieder nach Hause. Sein Sohn Karl war jetzt acht und die kleine Ruth, die ihren Vater wahrscheinlich zum ersten Mal sah, drei Jahre alt. Seine Arbeitsstelle hatte Samuel verloren und es sollte wie bei vielen Kriegsheimkehrern einige Jahre dauern, bis sich die Familie wirtschaftlich fangen würde. Aber sie waren wieder vereint, das war jetzt erst mal die Hauptsache.

Samuel Richter 1939
(Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 350 I Bü 35312)

Die Zwanziger Jahre: Aufbruch in eine bessere Zeit?

Geht man heute durch die Innenstadt Stuttgarts, geprägt von einer fehlgeleiteten Verkehrspolitik, endlosen Baustellen und austauschbarer Architektur, die ihre wenigen innovativen Gebäude verschämt hinter unschönen Hotel- und Shoppingcenter-Bauten zu verstecken scheint, mag man nicht glauben, wie modern die Stadt in den 20er Jahren war. Für die Werkbundausstellung 1927 schuf die Crème de la Crème des Neuen Bauens mit der Weissenhofsiedlung eine Ahnung des Wohnens von Übermorgen. Erich Mendelsohn setzte mit dem Neubau des Kaufhaus Schocken Maßstäbe, Josephine Baker tanzte im Friedrichsbau-Theater.12https://archiv0711.hypotheses.org/8667 Zwar kein Vergleich mit der brodelnden Hauptstadt Berlin, aber zumindest ein Tänzle auf dem Vulkan.

Installation in der Sonderausstellung „Stuttgart Twenties“ im StadtPalais – Museum für Stuttgart
(eigenes Bild)

Wie ein Zeichen des Aufbruchs für die Richters in ein neues glückliches Familienleben kam im März 1920 die kleine Edith auf die Welt. Ein Kind, das in Frieden und Wohlstand aufwachsen sollte. Gleichzeitig blickte die Weimarer Republik nach Stuttgart. Am 13. März 1920, elf Tage nach Ediths Geburt, meuterte das Militär in Berlin im Kapp-Putsch gegen die Regierung. Reichspräsident Ebert flüchtete nach Stuttgart. Am 16. März tagte die Reichsregierung im Alten Schloss, am 18. März trat die Nationalversammlung im Kunstgebäude am Schlossplatz zusammen. Für vier Tage war Stuttgart quasi Hauptstadt des Deutschen Reichs.13https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgart-und-der-kapp-putsch-vor-100-jahren-hauptstadt-fuer-vier-tage.515d32ac-0e9d-4a08-9a34-aa05e19570b6.html

Bevor danach alles besser werden konnte, wurde das Leben zunächst vor allem teuer. Streiks, Arbeitslosigkeit und die Preise stiegen uferlos. Am 8. Januar 1923 kostete ein Kilo Weißbrot 530 Mark, neun Monate später musste man dafür mehr als eine Million Mark hinlegen. Die Stuttgarter Stadtverwaltung druckte Geld am laufenden Band. Am 20. Oktober 1923 wurde eine 100 Milliarden Mark Note herausgegeben. Dafür konnte man sich im November 1923 gerade noch zwei Liter Milch kaufen.
Im Jahr 1923 wurde Karl Richter 13 Jahre alt. Ein wichtiges Ereignis stand an: im Oktober feierte er seine Bar Mitzwa. Trotz der wirtschaftlichen Not bereitete ihm Mutter Josefine ein schönes Fest im kleinen Kreise. Sie buk mehrere Kuchen. Nachbarn und Freunde schenkten Bücher und Geld – das am nächsten Tag kaum noch etwas wert war. Am 15. November 1923 hatte der Spuk ein Ende – die Ausgabe der Rentenmark stoppte die Inflation.14Chronik der Stadt Stuttgart 1918-1933, S. 367

Landesmuseum Württemberg. MK 2012-89: Geldschein der Stadt Stuttgart 5 Milliarden Mark 1923, zuletzt bearbeitet 2023-05-19 15https://bawue.museum-digital.de/object/91069

Das Leben in Stuttgart war in diesen Zeiten für alle nicht einfach. Für den jüdischen Teil der Bevölkerung kam jedoch hinzu, dass in der Stadt seit Anfang des 20. Jahrhunderts ein dichtes Netzwerk von völkischen Gruppen und Personen existierte, die mit Unterstützung der deutschnationalen „Süddeutschen Zeitung“ gegen Juden hetzten. Dies führte dazu, dass in den frühen 20er Jahren in Stuttgart ein bedrohlicher antisemitischer Normalzustand erreicht worden war.16Das jüdische Lehrhaus in Stuttgart 1926-1938, S. 67 Schon 1920 besuchte Hitler Stuttgart regelmäßig und hielt Vorträge. Die Stuttgarter Ortsgruppe der NSDAP hatte im Mai 1923 bereits 800 Mitglieder. Im August 1924 sprach Hitler vor über 3000 Zuhörern in der Liederhalle, trotz Redeverbots im übrigen Reich. Im April 1926 waren es Tausende, die auf dem Gauparteitag im Stuttgarter Wulle- und Dinkelackersaal Hitler und Goebbels zujubelten. Prügeleien zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, antisemititische Störaktionen, all das gehört jetzt zum Alltag in Stuttgart.17Stuttgart von Tag zu Tag 1900-1949 S. 57 ff.

Die Familie Richter trotzte den stürmischen Zeiten. Für Vater Samuel ging es beruflich wieder bergauf. Als die Schuhfabrik Peter Kaiser aus Pirmasens einen Vertreter für Süddeutschland und die Schweiz suchte, ergriff er die Chance. 1927 wurde er mit wachsendem Erfolg Handelsvertreter für hochwertige Schuhe. Im gleichen Jahr wurde die Familie eingebürgert. Jetzt waren sie keine Österreicher oder Polen mehr, sie waren echte Württemberger.

Und Samuel Richter hatte wieder Zeit für seine Leidenschaft: Fußball. Vielleicht war er sogar Mitglied der Stuttgarter Kickers, einem Fußballverein mit starken jüdischen Wurzeln.18 https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.die-juden-und-der-fussball-als-die-wurzeln-herausgerissen-wurden.f28afcbe-9af5-4274-89f6-fc64236b45f6.html Sicherlich war aber ab 1933 Hakoah Stuttgart sein Team, hier wurde er am 15. Dezember 1934 in den Vorstand gewählt und leitete fortan den Spielausschuss.19Jüdischer Sport in Baden und Württemberg bis 1938, S. 9 1937 erhielt er für sein Engagement die Silberne Makkabi-Ehrennadel.20Werner Skrentny in: Davidstern und Lederball, S. 188 Das Engagement von Samuel Richter für Hakoah Stuttgart sollte sich später als lebensrettend erweisen.

Was Samuel und Josefine in Bielitz-Biala verwehrt blieb, eine gute Schulausbildung, das wollten sie zumindest ihrem Sohn ermöglichen. Karl besuchte das humanistische Karls-Gymnasium, lernte Latein, Griechisch, Englisch und Französisch. Am Nachmittag bekam er Geigenunterricht. In Karls Freundeskreis spielte Religion keine große Rolle, seine engsten Freunde waren nichtjüdische Mitschüler. Mit Hans Weitbrecht, später Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Bonn, verband ihn eine lebenslange Freundschaft.21https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Jörg_Weitbrecht

Karls-Gymnasium in Stuttgart
Karls-Gymnasium Stuttgart (eigenes Bild)

1927 kam aber auch die große Zäsur für die Familie. Der Tod der kleinen Edith stellte alles in Frage, was bisher so selbstverständlich schien. Karl Richter hatte in Paul Rieger, seinem Religionslehrer am Karls-Gymnasium, seinem Rabbi, ein spirituelles Vorbild gefunden. Paul Rieger, der Stadtrabbiner von Stuttgart, liberal und deutsch-national. „Typus des deutsch-bewussten Juden“22https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/download/webcache/2000/2287395, ein Lehrer, „an dessen Lippen seine Schüler hingen“.23http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20275/RIEGER%20Stuttgart%20JuedNachrichtenblatt%20Berlin%2012071940.jpg Paul Rieger hatte am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau studiert. Der charismatische Geistliche inspirierte Karl Richter für dessen weiteren Lebensweg: auch er wollte Rabbi werden und auch er wollte in Breslau studieren.

Nach bestandenem Abitur verließ Karl Richter 1928 seine Heimatstadt Stuttgart, die Geborgenheit der Familie und der elterlichen Wohnung. Er machte sich auf nach Breslau.

Studium in Breslau

In der Hauptstadt von Niederschlesien lebten Ende der Zwanziger Jahre fast 600.000 Einwohner, darunter über 20.000 Juden. Die meisten stammten aus Polen, waren traditionell und religiös-orthodox, und schotteten sich in ihrem Schtetl ab. Die deutschen Juden in Breslau hingegen gehörten zum liberalen Bürgertum, waren integriert und patriotisch.24https://www.deutschlandfunkkultur.de/juedisches-leben-in-breslau-wroclaw-das-juedische-erbe-der-100.html Karl Richter schrieb sich an der philosophischen Fakultät der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität ein und absolvierte parallel die Rabbinerausbildung am jüdisch-theologischen Seminar, einer der wichtigsten jüdischen Bildungseinrichtungen in Europa.

Karl war intelligent und fleißig, er kam im fernen Breslau gut voran. 1933 hätte er sein Universitätsstudium abschließen können, seine Dissertation war bereits fertig. Die Nationalsozialisten verhinderten jedoch seinen Abschluss und auch die Dissertation wurde nicht veröffentlicht.25Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933–1945, S. 602 Karl Richter stürzte sich trotzdem oder gerade deswegen mit Leidenschaft in die Arbeit am Rabbinerseminar, war von 1932 bis 1933 Präsident der Studentischen Vertretung26Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933–1945, S. 602 und fand sogar seine große Liebe. Lina Ruth May, die Tochter des Kurators des Seminars, hatte es ihm angetan. Einladungen ins Haus ihrer Eltern Richard und Clara May nahm er gerne an – als Student war er dankbar für eine gute Mahlzeit und bei der anschließenden Hausmusik, bei der Vater Richard Klavier spielte und er selber Geige, verzauberte ihn Lina Ruths schöne Stimme. Diese Frau sollte es sein, auch wenn sie eigentlich noch ein Mädchen war. Nachdem Karl Richter seine Rabbinerausbildung mit dem Gesamtprädikat „mit Lob“ abgeschlossen hatte27Gemeinde-Zeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs 16.02.1935, S. 192, hielt er um ihre Hand an.

Doch bevor geheiratet werden konnte, musste dafür gesorgt werden, dass Lina Ruth lernte, was sie als Frau eines Rabbiners so brauchen würde. Koscher kochen, zum Beispiel. Am 1. Februar 1935 machte sie ein zweimonatiges Praktikum in der Küche der Israelitischen Altersversorgungsanstalt zu Breslau.

Karls allererste Anstellung als Rabbiner führte ihn ins schlesische Hirschberg. Eine kleine Gemeinde, vielleicht ein guter Einstieg. Und jetzt konnte endlich geheiratet werden. Ruth war gerade erst 17 Jahre alt als sie dem jungen Rabbi am 31. März 1935 das Ja-Wort gab. Die Ehe würde 67 Jahre lang glücklich sein.

Gemeinde-Zeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs 1. Oktober 1934

Die 30er Jahre: die Katastrophe naht

Nach Stuttgart hatte Karl Richter nach wie vor eine enge Bindung, zu seiner Familie und zur dortigen jüdischen Gemeinde. Immer wieder hielt er Vorträge im Gemeindehaus in der Hospitalstraße. In Stuttgart existierte seit Anfang 1926 ein jüdisches Lehrhaus, eine Art Volkshochschule für jüdische Themen, das Hebräisch-Unterricht, theologische Kurse und Vorträge anbot. Schon als Student in Breslau beteiligte sich Karl Richter aktiv am Bildungsangebot. Aber auch als Rabbiner kam er regelmäßig nach Stuttgart, um Vorträge zu halten.

aus unterschiedlichen Ausgaben des Jüdischen Gemeindeblatts für die Israelitischen Gemeinden Württemberg

1931 hatte es bei den Richters in Stuttgart wieder familiären Zuwachs gegeben. Josefines kleiner Bruder Arpad Pick war nach Stuttgart gezogen. Arpad war Pediceur und damit beauftragt, eine Niederlassung der „Deutschen Schollwerke GmbH“ in der Königstraße 62 aufzubauen. Gesunde Füße und kranke Füße – die Richters waren ab sofort für alles zuständig.

Die Machtergreifung der Nazis am 13. Januar 1933 änderte alles. Für Stuttgart und für die Familie Richter. Zunächst ein kurzes Aufbäumen: als Hitler in der Stadthalle am 21. Februar 1933 eine Rede hielt, kappten vier Kommunisten beim „Stuttgarter Kabelattentat“ das Übertragungskabel. Die wohl einzige spektakuläre Widerstandsaktion in Stuttgart. Jetzt ging es Schlag auf Schlag. Am 1. April 1933 postierten sich SA- und SS-Männer vor jüdischen Geschäften, Arzt- und Rechtsanwaltspraxen und riefen zum Boykott auf. Am 9. Mai 1933 wurde der langjährige Oberbürgermeister Karl Lautenschlager aus dem Amt gedrängt und durch einen Nationalsozialisten ersetzt.28Chronik der Stadt Stuttgart 1918-1933, S. 371 Die Gleichschaltung schritt voran und die Lage für die Juden und mit ihnen die Richters wurde immer schlimmer.

In Breslau wurde Karl Richter der Abschluss an der Universität verweigert. Seine Dissertation über Paul Natorp wurde nicht veröffentlicht

Am 9. April 1933 unterzeichneten auf Einladung der Stuttgarter Kickers 14 süddeutsche Spitzen-Fußballvereine die „Stuttgarter Erklärung“. Hierin bekundeten sie ihre Absicht, alle Juden aus ihren Vereinen auszuschließen.29Stuttgarter Erklärung auf Wikipedia Selbst wenn Samuel Richter kein Mitglied der Kickers war, ab jetzt spielten die jüdischen Fußballvereine nur noch unter sich.

Beruflich traf es bei den Richters Arpad Pick als ersten: „aus rassischen Gründen“ wurde er entlassen.30Entschädigungsakte Arpad Pick, Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 350 I Bü 38445 1934 zogen die Richters und Arpad aus der Wohnung in der Schlosserstraße in eine Wohnung in der Kronenstraße 39 in der Nähe des Bahnhofs. Immer noch eine gute Adresse, eine 5-Zimmer-Wohnung, bestehend aus Wohn-, Arbeits- Schlaf-, Mädchen- und Fremdenzimmer, bis zuletzt auch mit Telefonanschluss.31Entschädigungsakte Samuel Richter, Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 350 I Bü 35312 Arpad schlug sich jetzt als „Reisevertreter“ durch. Samuel wurde Mitte 1937 auf Anordnung des Kreisleiters der NSDAP in Pirmasens entlassen. Anfang 1938 wurde ihm auch die Reiselegitimationskarte entzogen. Damit konnte er nicht mehr als Handelsvertreter arbeiten. Die Familie war wirtschaftlich am Ende.

Kronenstraße 39 in Stuttgart, das Haus, in dem die Richters lebten, hat den Krieg nicht überstanden (eigenes Bild)

Schivelbein- Der motorisierte Rabbi

Für Karl Richter war seine erste Anstellung in Hirschberg nur eine kurze Zwischenstation. Er hatte eine neue Stelle in Pommern angenommen. Schivelbein in Hinterpommern. Viel größer hätte der Kontrast zur schlesischen Metropole Breslau nicht sein können. Eine Kleinstadt am anderen Ende des Deutschen Reichs, knapp 10.000 Einwohner, inmitten eines klassischen Agrarlands, geprägt durch große Adelsgüter, auf denen die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Der Ort lebte von Landwirtschaft und Handel, Industrie gab es kaum. Die pommerschen Gutsherrn wählten traditionell konservativ und legten auch ihren Mitarbeitern nahe, dies zu tun. 56 % der Bevölkerung hatten bei den Wahlen 1933 für die NSDAP gestimmt32https://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwpommern.htm, 10% mehr als im übrigen Reich. Und der radikale Antisemitismus fand bereitwillige Anhänger. 

Die Synagoge in Schivelbein (Public Domain wegen Alters)

Seit 1893 war die jüdische Gemeinde von Schivelbein ohne eigenen Rabbiner ausgekommen. Kantoren und Lehrer hatten das Gemeindeleben gestaltet. Nur an hohen Feiertagen kam der Rabbiner aus einer der benachbarten Gemeinden.33https://belgard.org/orte/schivelbein/juedische-gemeinde/die-schivelbeiner-rabbiner/ Das hatte auch finanzielle Gründe. Die Mittel, die die Gemeindemitglieder für ihr geistliches Personal aufbringen konnten, sanken stetig. Schon vor 1933 war die jüdische Gemeinde geschrumpft. Das nahe Berlin bot so viel mehr Möglichkeiten für das berufliche und kulturelle Leben. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation der verbliebenen Juden dramatisch. Nach dem Boykottaufruf vom 1. April 1933 und dem „Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 wurde es für viele Juden immer schwieriger, ihren ursprünglichen Berufen nachzugehen. Zudem verloren die jüdischen Gemeinden ihren Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts und damit jegliche staatliche Zuschüsse. Der Verband der Synagogengemeinden in Pommern musste darauf reagieren und beschloss deshalb im November 1934, in Schivelbein ein Bezirksrabbinat einzurichten. Von hier aus sollten von nun an Stadt und umgebendes Land, geschätzte 1000 Seelen, betreut werden. Und man entschied, dass sich der junge Rabbi Karl Richter dieser Herausforderung stellen sollte. Am 10. Februar 1935 wurde er feierlich in sein Amt eingeführt.

Gemeindeblatt für die Jüdischen Gemeinden Preussens 01.02.1935
Gemeindezeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs 16.02.1935
Gemeindeblatt für die jüdischen Gemeinden Preussens 01.03.1935

Den Vorsitz der jüdischen Gemeinde von Schivelbein hatte vor kurzem der angesehene Arzt Dr. Meyersohn34https://ahnenblog.globonauten.de/der-juedische-arzt-von-schivelbein/ übernommen. Die Gemeinde bereitet Karl und Lina Ruth Richter einen herzlichen Empfang. Auch einige nichtjüdische Bürgerinnen und Bürger Schivelbeins waren dem neuen Rabbi wohlgesonnen. Das änderte sich nur ein halbes Jahr später. Die Nürnberger Gesetze wurden verabschiedet, und sie schienen den Schivelbeinern einen neuen moralischen Kompass an die Hand gegeben zu haben. Ab sofort verging kaum eine Nacht, in der Karl und Lina Ruth Richter nicht durch Klopfen an die Fensterscheiben, Schläge gegen die Tür und „Juden raus!“-Rufe aus dem Schlaf gerissen wurden.35Erinnerungen von Karl Richter in „Flucht oder Tod“, S. 111 ff.

Karl Richter stürzte sich trotzdem in die Arbeit. Zwölf Dörfer im Umkreis musste er abdecken und der Bedarf an seelsorgerischem Beistand wurde immer größer. Die offene Feindschaft, die jahrzehntelange Nachbarn den Juden entgegenbrachten, schockierte die Gemeindemitglieder und rückte den Glauben noch mehr in den Mittelpunkt ihres Lebens. Karl und Lina Ruth Richter fuhren über Land, der jüdische Rat hatte ihnen ein kleines Auto zur Verfügung gestellt – noch eine Seltenheit in Schivelbein – und so wurde aus Karl Richter einer der ersten motorisierten Rabbis in Deutschland. Sie besuchten die verschiedenen Gemeinden, Karl gab den wenigen Kindern Religionsunterricht, veranstaltete Gottesdienste und Vorlesungen. Die Gemeinden bestanden meist aus älteren Menschen, weil immer mehr Jüngere Deutschland verließen. Im benachbarten Bad Polzin war er öfter bei Dr. Leo Levy, dem Inhaber einer großen Holzhandlung eingeladen. Leo Levy wurde am frühen Morgen des 10. November 1938 in seinem Haus von einem SS-Mann erschossen.36Ascher Levys Sehnsucht nach Deutschland, S. 332 Roman Frister hat der Familie Levy aus Bad Polzin in seinem Buch „Ascher Levys Sehnsucht nach Deutschland“ 1999 ein Denkmal gesetzt. Vielleicht hatte Karl Richter noch die Gelegenheit, es zu lesen.

Die Situation in Schivelbein spitzte sich für Juden immer mehr zu. Als die Richters eines Tages nach Hause kamen, war ein Plakat über die Straße gezogen auf dem stand „Am nächsten Sonntag wird der Rabbiner im Stadion gehängt“. Auch die nächtlichen Attacken wurden schlimmer. Das Paar entschloss sich im Oktober 1935, aus dem Gemeindehaus in eine Wohnung am Marktplatz umzuziehen, die einem Gemeindemitglied gehörte. Im 2. Stock hofften sie auf mehr Sicherheit. Doch dann wurde durch ihr Fenster geschossen. Im Herbst 1935 wude Karl Richter in die Gestapozentrale in Köslin vorgeladen. Er habe in der Synagoge eine Rede gegen die Regierung gehalten. Er wurde befragt und für mehrere Stunden in eine Zelle eingeschlossen. Mit der Drohung, beim nächsten Vorfall würde er ins Konzentrationslager kommen, wurde er schließlich entlassen.37Erinnerungen von Karl Richter in „Flucht oder Tod“, S. 111 ff.

Als sich der Stettiner Rabbi Dr. Max Elk entschloss, nach Palästina auszuwandern, kam eine jüdische Delegation aus der pommerschen Hauptstadt nach Schivelbein gereist, um dem gerade einmal 25 Jahre alten Karl Richter die Nachfolge anzutragen. Eine große Ehre und Anerkennung für den jungen Rabbi. So währte Karl Richters Aufenthalt in Schivelbein nur elf Monate. Sein Nachfolger Siegfried Scheuermann wurde zum Liquidator der Gemeinde – seine Hauptaufgabe bestand nur noch darin, den Menschen zur Flucht zu verhelfen.38Brief von Else Peters, Ehefrau von Siegfried Scheuermann in „Flucht oder Tod“, S. 121

Stettin und Mannheim – der Anfang vom Ende

Am 1. Februar 1936 trat Karl Richter seinen Dienst in der Synagoge in Stettin an. Sein stolzer Vater Samuel hatte die beschwerliche Reise aus dem 800 km entfernten Stuttgart auf sich genommen, um diesen wichtigen Tag im Leben seines Sohnes mit ihm zu teilen. Doch die Hoffnung der Richters, dass der wachsende Judenhass das tägliche Leben in der Großstadt nicht dominieren würde, erfüllte sich nicht. Auch in Stettin wurde nichts besser. Schnell wurde der Familie Richter klar, dass es keine gute Zukunft für Juden in Deutschland mehr geben konnte. Auch in Stettin war die Gemeinde in Auflösung begriffen. Pommern sollte judenfrei werden, als erster Gau des Reiches, das hatte sich Gauleiter Franz Schwede fest vorgenommen. „Es war eine traurige Zeit. Einige verzweifelte ältere Leute nahmen sich das Leben.“, erinnerte sich Karl Richter später an seine Zeit in Stettin. Trotzdem glaubten seine Frau Lina Ruth und er an ihre ganz persönliche Zukunft – am 3. Mai 1936 kam Tochter Esther Edith in Stettin zur Welt. Edith wie die kleine Schwester, die Karl Richter vor zehn Jahren verloren hatte.

Die Stettiner Synagoge, Autor unbekannt, gemeinfrei39
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2655385

Als Karl Richter das Angebot erhielt, Rabbiner in Mannheim zu werden, stimmte er sofort zu – Mannheim liegt nur etwas über 100 km von Stuttgart entfernt, was immer passieren mochte, er wäre näher bei den Eltern und seiner Schwester. Am 1. Februar 1938 begann er seinen Dienst als Stadtrabbiner in der Hauptstadt der Kurpfalz. Keine anderthalb Jahre würde er hier verbringen und es würden seine letzten 15 Monate in Deutschland sein.

Die Deportation der Mannheimer Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit Ende Oktober 1938 markierte den Beginn der Lebensgefahr, in der sich bald alle Juden in Deutschland befanden. Am 10. November 1938 um sechs Uhr morgens ließ die Mannheimer SA eine Sprengladung an der Synagoge zünden, die das prächtige Gotteshaus zur Ruine werden ließ.40Die Judenverfolgung in Mannheim 1933-1945, S. 199 Fassungslos stieg Rabbi Richter durch die Trümmer, die verbrannten Bücher, die zerstörte Einrichtung.41 Reflections by Jewish survivors from Mannheim, S. 83 Jetzt war klar – er musste gehen. Er musste alles tun, um seine Familie in Sicherheit zu bringen. Zunächst war es aber seine Frau Lina Ruth, die sein Überleben sicherte. Sie wusste, dass die Gestapo nach ihm suchen würde. Die Rabbiner mit ihrem Einfluss auf die Gemeinden standen auf der Einschüchterungsliste der Nazis ganz oben. Lina Ruth Richter beschwor ihren Mann, nicht in die Wohnung zurückzukehren, sondern ein Versteck zu suchen. Das fand Karl Richter – er verbrachte die Nacht im jüdischen Krankenhaus Mannheims genau dort, wo keiner nach ihm suchen würde – auf der Isolierstation für Patienten mit Scharlach.

Auch in Stuttgart wurde die Synagoge im Hospitalviertel, das Zentrum jüdischen Lebens in der Stadt, in Schutt und Asche gelegt.

Bild der alten Stuttgarter Synagoge in der Neuen Synagoge in Stuttgart
(eigenes Bild)

Samuel Richter war außer sich, er sorgte sich um den Sohn, die Schwiegertochter und die kleine Enkelin in Mannheim. Er musste etwas tun. Samuel machte sich auf nach Mannheim. Die Wohnung seines Sohnes fand er verlassen vor. Jemand gab ihm den Tipp, im jüdischen Krankenhaus nachzusehen. Als der erleichterte Samuel seinen Sohn dort gefunden hatte, bestand er darauf: Karl, Lina Ruth und Esther müssten mit ihm nach Stuttgart kommen, dort schien es noch nicht losgegangen zu sein mit den Verhaftungen. Jemand brachte sie mit dem Auto ins nahe Heidelberg, von dort nahmen sie den Zug nach Stuttgart. Doch schon bei ihrer Ankunft am Bahnhof merkten sie, dass sie der Verfolgung auch hier nicht entgehen würden. Auf keinen Fall konnte Karl jetzt mit in die Wohnung der Richters kommen, dort würde man ihn sicherlich finden. Ihr Freund und früherer Nachbar aus der Schlosserstraße Nikolaus Heinl war die Rettung – er versteckte Karl mehrere Nächte auf dem Dachboden seiner Wohnung in der Johannesstraße 70, bis die Familie wieder nach Mannheim zurückkehren konnte.

Johannesstraße in Stuttgart
Das Haus in der Johannesstraße 70, auf dessen Dachboden sich Karl Richter nach der Pogromnacht versteckte (eigenes Bild)

Samuel Richter konnte seinen Sohn schützen, fiel den Häschern aber selber zum Opfer. Er wurde grundlos verhaftet und in „Schutzhaft“ genommen. Einen Monat musste er im Konzentrationslager Welzheim verbringen, wurde bei der Einlieferung vom Gefängniskommandanten ausgeplündert und verlor in den kräftezehrenden folgenden vier Wochen 18 Pfund an Gewicht. Vermutlich bewahrte ihn nur seine Vergangenheit als Frontkämpfer vor einer langen Inhaftierung. Jahre später wird ihn die Bundesrepublik Deutschland nach langem bürokratischem Kampf mit vier D-Mark pro Tag für die ungerechtfertigte Haft entschädigen.42Entschädigungsakte Samuel Richter, Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 350 I Bü 35312

Riegel einer Zellentür aus dem Polizeigefängnis Welzheim, Museum „Hotel Silber“ Stuttgart (eigenes Bild)

Die Flucht

Samuel Richter hatte bei seiner Entlassung aus dem KZ Welzheim unterschreiben müssen, dass er Deutschland innerhalb von vier Monaten verlassen würde. Der Einschüchterung durch die Nazischergen hätte es aber gar nicht bedurft. In diesem Land, ihrer Heimat, wollten die Richters in Stuttgart auf keinen Fall mehr bleiben. In Mannheim machte sich Karl Richter die Entscheidung nicht leicht. Er hatte Skrupel, er wollte seine Gemeinde nicht im Stich lassen. Erst ein Briefwechsel mit der moralischen Instanz des liberalen Judentums in Deutschland, Rabbi Leo Baeck, überzeugte ihn: er musste sich und seine Familie retten.43Karl Richter „A Refugee Rabbinate“ in: The Jewish Legacy and the German Conscience, S. 207

Deutschland zu verlassen war zu dieser Zeit ein vergleichsweise geringes Problem, wenn man bereit war, sich wirtschaftlich zu ruinieren. Eine viel größere Herausforderung war es, ein Land zu finden, das jüdische Flüchtlinge aufnahm. Die Vorgänge in Deutschland geschahen nicht im Verborgenen, die brennenden Synagogen, die Verfolgungen, die Entrechtungen – all dies fand vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt. Trotzdem schlossen sich die Türen für jüdische Flüchtlinge rund um den Globus. Die internationale Konferenz von Évian, bei der Vertreter von 32 Staaten auf Einladung der USA über Perspektiven für die verfolgten Juden diskutierten, endete am 15. Juli 1938 mit einer moralischen Bankrotterklärung der Weltgemeinschaft – unschön, die Situation da in Deutschland, aber wir können euch nicht aufnehmen.

Doch die Familie Richter war findig. Samuel Richters Fußballleidenschaft entpuppte sich als Rettung für Tochter Ruth. Ernst Freudenheim44Ernst Freudenheim rettete einer großen Zahl von Jüdinnen und Juden das Leben, von seinem Leben berichtet er in einem Interview aus dem Jahr 1989, Vorsitzender des Fußballvereins Hakoah Stuttgart, emigrierte Ende 1937 in die USA45Jüdisches Gemeindeblatt für die israelitischen Gemeinden in Württemberg XIV Nr. 15, 01.11.1937, S. 130 und bot ihr eine Stelle als Haushälterin an. Die notwendige Basis, um ein Arbeitsvisum für die USA zu ergattern. Am 15. Dezember 1938 erreichte Ruth Richter New York und war in Sicherheit.

Am 20.03.1939 erhielt Samuel Richter in Stuttgart die Nachricht vom englischen Konsulat in Berlin, dass er und seine Frau nach Palästina einreisen dürften – wenn sie es schafften, am 4. April 1939 das Schiff in Triest zu erreichen. Zwei Wochen, um ein ganzes Leben in Stuttgart aufzulösen. Drei Kisten Hausrat gestand man ihnen zu. Für ein Drittel des eigentlichen Werts verkaufte Samuel die gesamte Wohnungseinrichtung, um die Kosten der Reise nach Palästina bestreiten zu können. Wären noch Wertgegenstände vorhanden gewesen, die Nazis hätten auch diese geraubt. Erlaubt war die Mitnahme „einer Uhr (kein Gold), zweier Bestecke (4teilig) pro Person, des Eheringes“. Und 10 Reichsmark pro Person.

Samuel und Josefine Richter überquerten die jugoslawische Grenze bei Rosenbach in Österreich am 4. April 1939 und erreichten das Schiff in Triest am 5. April 1939. Am 10. April 1939 bekamen sie die Aufenthaltsgenehmigung für Palästina und ließen sich in Tel Aviv nieder.

Karl und Lina Ruth Richter flohen mit der kleinen Tochter Esther in die USA. Über Kontakte eines Rabbinerkollegen aus Heidelberg hatte Karl eine Rabbinerstelle in Fredericksburg, Missouri angeboten bekommen. Der Visumsprozess zog sich quälend langsam hin. Doch da kam unerwartete Hilfe von einem Senator aus Missouri, der das amerikanische Konsulat in Stuttgart bat, das Visum schnell zu erteilen. Dieser Senator namens Harry S. Truman wurde 1945 zum 33. Präsidenten der USA gewählt und Karl Richter bewahrte sein lebensrettendes Empfehlungsschreiben zeitlebens wie einen Schatz auf. Am 20. April 1939 sollte es dann endlich soweit sein – Karl und Lina Ruth Richter machten sich auf den Weg von Mannheim nach Stuttgart, um ihre Visa im amerikanischen Konsulat in der Königstraße 19 A in Empfang zu nehmen. Doch sie standen vor verschlossenen Türen – an „Führers Geburtstag“ machten sogar die Amerikaner Pause. Eine lange Nacht mussten sie in Stuttgart warten und konnten dann endlich das rettende Visum in Empfang nehmen. Auch sie durften aus Mannheim kaum etwas mitnehmen. Beim Packen der Umzugskisten kam ein Zollbeamter in die Wohnung nach Mannheim um darüber zu wachen, dass keine Wertgegenstände in die Kisten gelangten. Vielleicht möchte er einen Schnaps trinken, während sie packen, fragten ihn die Richters. Mochte er, aus einem wurden mehrere und der strenge Blick des Aufsehers verschwamm. So gelang es der Familie, neben dem ein oder anderen verbotenen Kerzenleuchter eine kleine Besanimbüchse, einen rituellen Gewürzbehälter, die Karl Richter in Breslau gekauft hatte, in die Kisten zu schmuggeln. Seine Tochter Esther hält diese kleine silberne Box bis heute in Ehren.46https://azjewishpost.com/2017/havdalah-spice-box-reminder-of-fathers-legacy-of-hope/ Am 11. Mai 1939 erreichte die Familie New York. Auf der Überfahrt hatte Esther ihren dritten Geburtstag gefeiert.

Josefines Bruder Arpad, der viele Jahre mit den Richters in einer Wohnung in Stuttgart lebte, hatte weniger Glück. Er hatte weder ein Visum für die USA noch für Palästina ergattern können. Durch die Grenzverschiebungen nach dem 1. Weltkrieg gehörte sein Geburtsort Grenitz jetzt zur Tschechoslowakei und Arpad war dadurch tschechischer Staatsangehöriger. Deswegen floh er zunächst nach Prag. Am 15.03.1939 war die Wehrmacht in die tschechische Hauptstadt einmarschiert, aber noch war es für Juden sicherer als in Deutschland. Doch Ende 1939 wurde die Situation auch hier lebensgefährlich. Arpad hatte Glück im Unglück – eine zionistische Organisation hatte im Oktober 1939 kurzfristig ein größeres Schiff als ursprünglich geplant zur Verfügung, das Juden über das Schwarze Meer nach Palästina bringen sollte. Abreise: sofort. Am 28.10.1939 ging es zunächst nach Bratislava, dann mit dem Raddampfer über die Donau weiter ins rumänische Sulina an der Schwarzmeerküste. Hier hatte der türkische Eigner des Frachtdampfers Sakarya gerade gemerkt, dass er jüdische Flüchtlinge illegal nach Haifa bringen sollte und wollte jetzt den Preis neu verhandeln. Arpad bestieg die S.S. Sakarya am 25.12.1939, aber es sollte Wochen dauern bis die Reise starten konnte.47Aussage von Erwin Alter in Entschädigungsakte Arpad Pick, Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 350 I Bü 38445 Weitere Schiffe kamen über die Donau an und am Ende waren es 2175 Menschen, die in der winterlichen Kälte ihre Hoffnung in den alten Kohlendampfer legten. Verzweifelt versuchten die Organisatoren, mehr Geld aufzutreiben, ihr Hilferuf drang bis nach Südafrika und endlich war genug zusammen, um den Reeder zufriedenzustellen. Am 1. Februar 1940 konnte die Sakarya endlich auslaufen. Am 10. Februar verließen sie das Schwarze Meer, das Mittelmeer war schon in Sicht, da hielt ein britischer Kreuzer das Schiff an. Ein Schock, und dann eine kurze Erleichterung: man würde sie nicht zurückschicken. Ein Kommando der Briten kam an Bord und dirigierte die restliche Fahrt. Am 13.02.1940, dreieinhalb Monate, nachdem er Prag verlassen hatte, warf Arpad den ersten Blick auf das Heilige Land.48Die Sakarya-Expedition in: Jürgen Rohwer: Jüdische Flüchtlingsschiffe im Schwarzen Meer Doch es dauerte sechs Monate, bis er ein freier Mensch war. Die Briten brachten die Passagiere zunächst in das Internierungslager Atlit, südlich von Haifa. Ein Camp aus Baracken und Zelten, das sich für viele Insassen anfühlte, als seien sie jetzt im Konzentrationslager angekommen. Und Arpad war krank. Als kerngesunder Mann hatte er Stuttgart verlassen, die Monate auf dem eisigen Schiff, die Ungewissheit und die Enttäuschung hatten sein Herz krank gemacht. Doch wenigstens waren in Palästina Menschen aus der Heimat, die ihn besuchten und ihm über die Zeit im Lager hinweghalfen. Erwin Alter aus der Augustenstraße im Stuttgarter Westen und Max Arm, Erwins Schwager, seine guten Freunde. Und seine Schwester Josefine. Bei ihr konnte er in der Wohnung in Tel Aviv unterkommen, als er im August 1940 endlich entlassen wurde, sie pflegte ihn gesund. Und er schaffte es, an sein Leben in Stuttgart anzuknüpfen – auch in Tel Aviv gab es eine Filiale von Dr. Scholl, bei der er als Pediceur und Verkäufer arbeiten konnte. Doch Arpad würde sich nie wieder ganz von den Strapazen der Flucht erholen. Am 28. Mai 1948 starb er mit 62 Jahren an einem Herzleiden.49Entschädigungsakte Arpad Pick, Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 350 I Bü 38445

Sterbeurkunde von Arpad Pick (Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 350 I Bü 38445)

Überleben

Samuel und Josephine Richter blieben nur einige Jahre in Tel Aviv. Samuel fand keine bezahlte Arbeit und managte schließlich ein jüdisches Fußballteam. Das Ehepaar verdiente sich ein kleines Zubrot, indem sie Untermieter aufnahmen, die von Josefine bekocht wurden. Ihre Kinder in den USA unterstützen sie finanziell, soweit es ihnen möglich war. Doch der Krieg verfolgte sie bis nach Palästina. Am Nachmittag des 9. September 1940 wurde Tel Aviv von italienischen Kampfflugzeugen angegriffen. 137 Menschen starben, 80 wurden zum Teil schwer verletzt.50HaGalil: Vor 80 Jahren wurde Tel Aviv von der italienischen Luftwaffe bombardiert Unter den schwer Verletzten befand sich auch Samuel Richter.51Bericht von Karl Richter in „Lebenszeichen, Juden aus Württemberg nach 1933“, S. 251 Am 1. April 1947 siedelten Samuel und Josefine Richter in die USA über und lebten bis zu ihrem Tod in Buffalo, New York. Samuel, mittlerweile im Rentenalter, war „als einfacher Arbeiter“ in einer Fabrik beschäftigt – bis er 81 Jahre alt war.52Bericht von Karl Richter in „Lebenszeichen, Juden aus Württemberg nach 1933“, S. 251 Nach langem bürokratischen Kampf bekam er eine kleine Rente aus Deutschland zur Kompensation des „Schadens im beruflichen Vorankommen“. Seine Frau Josefine starb am 6. August 1961 mit 78 Jahren. Samuel Richter starb 91-jährig am 15.11.1970 in Buffalo.

Karl und Ruth Richter schaffen es, in den USA Fuß zu fassen. Ihr Sohn David kam dort 1945 zur Welt, ihr „Peace Baby“ nannten sie ihn. Karl Richter war lange Jahre als Rabbi in Missouri, South Dakota und Indiana tätig, bevor er seinen Ruhestand in Florida genießen konnte. Dutzende Familienmitglieder waren in der Shoah ermordet worden, von vielen kann bis heute nicht einmal der genaue Ort ihres Todes ermittelt werden. Albträume und die Schuldgefühle der Überlebenden begleiteten Karl Richter für den Rest seines Lebens. Trotzdem besuchte er seine Heimat noch ein paar mal, zuletzt zur Einweihung der neuen Synagoge in Mannheim im Jahr 1998, wo er zur Hoffnung und Versöhnung aufrief.53https://azjewishpost.com/2017/havdalah-spice-box-reminder-of-fathers-legacy-of-hope/ Das Bedürfnis, Zeugnis abzulegen über das, was ihm, seiner Familie und allen Jüdinnen und Juden in Deutschland widerfahren ist, hat ihn nie verlassen. Im hohen Alter von fast 87 Jahren stellte er sich 1997 einem Interview der Shoah Foundation, das in Teilen Basis der hier geschilderten Geschichte ist. Seine Frau Lina Ruth Richter starb vier Jahre später, kurz vor Weihnachten 2001. Den Verlust der Frau, mit der er mehr als 65 Jahre seines Lebens geteilt hatte, war für ihn kaum zu verwinden. Karl Richter starb am 25. September 2005 mit 94 Jahren in Tampa, Florida.

Dr. Karl Richter
mit freundlicher Genehmigung von Esther Blumenfeld Richter

Nachwort

Ich habe mich auf die Zeit von Dr. Karl Richter in Stuttgart und Schivelbein konzentriert. Seinem reichen Leben, insbesondere seiner theologischen Arbeit, werde ich damit sicherlich nicht gerecht. Insofern muss dieser Beitrag unvollständig bleiben. Warum gerade diese beiden Orte? Meine Familie väterlicherseits kommt aus Schivelbein, sie waren einfache evangelische Arbeiterinnen und Arbeiter. Und Stuttgart ist die Stadt, in der ich heute lebe. Dass sich die Spuren von Rabbi Karl Richter in meiner direkten Umgebung finden würden, hatte ich nicht erwartet.

Die Familie Richter lebte in unmittelbarer Nähe der Familie meines Mannes. Die Wohnung meiner Schwiegereltern, die ich hunderte Male besucht habe, ist eine Minute von der Schlosserstrasse 5a entfernt. Der Kindergarten meines Mannes befand sich direkt neben dem Haus der Richters. Ich bin überzeugt, dass meine „Schwiegergroßmutter“ die Familie Richter kannte – Ruth Richter, die Schwester von Karl, war nur knapp zwei Jahre jünger und nur 100 Meter trennten die Häuser der beiden „Backfische“, wie man Teenagerinnen damals nannte. Um die Ecke meiner Wohnung im Stuttgarter Westen liegen die Stolpersteine der Eltern von Erwin Alter54https://www.stolpersteine-stuttgart.de/biografien/mali-amalie-und-sandor-alexander-alter-augustenstr-65/, dem Freund von Arpad Pick, der ihn im Lager Atlit besuchte. Die Geschichte der Familie Richter in Stuttgart ist mir räumlich so nah wie sie es meinen Großeltern in Schivelbein gewesen sein muss. Sie lebten in der Mittelstraße, nur wenige Meter entfernt von der Wohnung von Rabbi Richter am Marktplatz.

Die Reise in die Stuttgarter Vergangenheit von Dr. Karl Richter hat meine Sicht auf die Stadt verändert. Gerade in Gegenden wie dem Heusteigviertel, wo das alte Stuttgart noch aufblitzt, wo Krieg und Verkehrsplanung wenig gewütet haben, wird mir deutlich, welchen Anteil jüdische Familien, ihre Kultur und Geschäfte, am Stuttgarter Leben bis 1933 hatten. Karl Richter hat nie begreifen können, wie die deutsche Gesellschaft ihre jüdischen Mitbürger demütigen, verfolgen und ermorden konnte. Auch das verbindet mich mit ihm.

Stammbaum der Familie Richter

eigene Grafik
Josephine Pick hatte weitere Geschwister, nur die beiden in diesem Bericht erwähnten sind aufgeführt

 

Verwendete Quellen

Internet

Alemannia Judaica, Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum

Arolsen Archives: Online Archiv

Central Jewish Library des Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau

HaGalil, Jüdisches Leben online

Jewish Records Indexing Poland

Judaica der Universitätsbibliothek der Goethe Universität Frankfurt am Main, hier – unter vielem anderen – die Gemeindezeitungen der jüdischen Gemeinden

Stuttgarter Neues Tagblatt auf den Seiten der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart

United States Holocaust Museum

Visual History Archive der USC Shoa Foundation, hier nach Registrierung das Interview mit Dr. Karl Richter

Yad Vashem: Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer

Arizona Jewish Post: Havdalah spice box reminder of father’s legacy of hope

Tampa Bay Times: Karl Richter, Tampa Rabbi, „a prophet for our times“

History Museum on the Square, Springfield, Missouri: Rabbi Karl Richter

Bücher und Aufsätze

Antifaschistische Initiative gegen das Vergessen: „Der Bedarf an Bestecken ist gedeckt, Dokumente zur Ausplünderung der Stuttgarter Juden“

Fliedner, Hans-Joachim: Die Judenverfolgung in Mannheim 1933 – 1945, Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim, 1991

Frister, Roman: Ascher Levys Sehnsucht nach Deutschland, München 1999

Kolloquim der Sektionen Geschichtswissenschaft und Theologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald: Der faschistische Pogrom vom 9./10. November 1938 – Zur Geschichte der Juden in Pommern, Greifswald 1988

Kotzurek, Annegret, Reddies, Rainer: Stuttgart von Tag zu Tag 1900-1949, Stuttgart 2009

Mannheim Reunion Committee New York: Reflections by Jewish survivors from Mannheim, Juni 1990

Peiser, Jacob: Die Geschichte der Synagogen-Gemeinde zu Stettin, 2. Auflage, Würzburg 1965

Rischin, Moses, Asher, Raphael: The Jewish Legacy and the German Conscience, Berkeley 1991

Röder, Werner, Strauss, Herbert A.: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933–1945, München 1999

Rohwer, Jürgen: Jüdische Flüchtlingsschiffe im Schwarzen Meer (1934-1944)

Roth, Wolfgang: Jüdischer Sport in Baden und Württemberg bis 1938

Schulze-Marmeling, Dietrich (Hrsg.): Davidstern und Lederball, Die Geschichte der Juden im deutschen und internationalen Fußball, Göttingen 2005

Strauss, Walter: Lebenszeichen, Juden aus Württemberg nach 1933, Gerlingen 1982

Ulmer, Martin: Antisemitismus in Stuttgart 1871-1933, Berlin 2011

Waller, Anja: Das Jüdische Lehrhaus in Stuttgart 1926-1938, Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart, 2017

Wilhelmus, Wolfgang: Flucht oder Tod, Erinnerungen und Briefe pommerscher Juden, Rostock 2001

Wilhelmus, Wolfgang: Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, Hildesheim 1995

Wilhelmus, Wolfgang: Geschichte der Juden in Pommern, Rostock 2004

Zelzer, Maria: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden, Stuttgart 1964

Akten des Landesarchivs Baden-Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg

Akten zu Entschädigungszahlungen für Samuel Richter und Arpad Pick

Akten zur Todeserklärung von Johanna (Jeanette) Pick, geb. Loew, Max Pick, Luise Grünstein, geb. Pick, Leo Pick

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