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Der jüdische Mühlenbesitzer von Schivelbein

Der alte Mann spazierte die Mühlenstraße hinunter, entlang des Schivelbeiner Schlosses, erstaunlich festen Schrittes für einen fast 80-jährigen. Ein frostiger Januarnachmittag und der Wind machte es noch kälter. Er hatte sich Zeit gelassen, nach dem Synagogenbesuch, hatte ausführlich die Glückwünsche der Gemeindemitglieder zu seinem Geburtstag entgegengenommen. Der Rest des Tages würde jetzt aber der Familie gehören, das stand fest, auch wenn viele andere heute mit ihm feiern wollten. Die würden warten müssen. Der 8. Januar 1932 war ein Freitag, Schabbat, und bald würden sie rund um den großen Esstisch im warmen Wohnzimmer der Villa sitzen. Menschen eilten in der Winterkälte an ihm vorbei. Wenn sie ihn erkannten, zogen die Männer kurz ihren Hut. „Guten Abend, Herr Mühlenbesitzer“, grüßten sie. Max Salomon musste lächeln. Vor fast zwanzig Jahren hatte er den Betrieb seinem Sohn überschrieben, aber der Mühlenbesitzer würde wohl immer er bleiben.

Der Tisch in der Villa Salomon neben der Schlossmühle war festlich gedeckt. Elf Stühle drängten sich um die Festtafel und seine Tochter Käthe begrüßte ihn mit den Worten „Komm schnell, Vater, die Sonne wird bald untergehen.“ Die Schabbat-Kerzen würde heute Abend sein Bruder Philipp anzünden, der aus Berlin angereist war. Der Kiddusch, der traditionelle Segen, würde dann aber Max Salomon vorbehalten sein.

Lange saßen sie an diesem Abend am Tisch, fröhlich plaudernd und voll des Lobes über das gute Essen. Max Salomons Blick machte die Runde: sein Bruder Philipp, der Herr Justizrat, mit 64 Jahren ja fast noch ein Jungspund. Max Salomons Ältester Kurt, der wahre Mühlenbesitzer, mit seiner Frau Lucie und den Kindern Margot und Heinz. Sein jüngerer Sohn Paul, der Rechtsanwalt aus Berlin, um den er während dessen Kriegsgefangenschaft in Frankreich so sehr gebangt hatte. Und Max‘ Jüngste, Käthe mit Mann und Töchtern. Was hatte sie mit dem Arzt Dr. Siegbert Meyersohn doch für eine gute Partie gemacht. Ihre Älteste Lisa, die in die Fußstapfen des Vaters treten wollte mit ihrem Wunsch, einmal Medizin zu studieren. Blitzgescheit, seine beiden großen Enkelinnen. Margot und Lisa würden dieses Jahr ihr Abitur machen. Wohin wohl der Weg für Lisas kleine Schwester Eva gehen würde? Sie war erst elf und kicherte mit ihrem 15-jährigen Cousin Heinz am Ende des Tisches. Max Salomon lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte auf das Bild seiner Frau auf der dunklen Anrichte neben ihm. Aus unseren Kindern ist etwas geworden, Therese, das hätte Dich gefreut.

Das letzte große Familienfest in diesem Kreis. Nur zwei Monate später starb Max Salomon mit 79 Jahren in Schivelbein.

Max Salomon
Israelitisches Familienblatt 5. Januar 1928

Vom Ledermachen zum Lederhandel: Pollnow und Landsberg an der Warthe

Als Max Salomon am 8. Januar 1853 in Pollnow, Kreis Schlawe in Hinterpommern geboren wurde1Standesamt Schivelbein Tote, 1932/33, lebten hier gerade einmal 71 Juden und die Wahrscheinlichkeit, dass einer von ihnen den Nachnamen Salomon trug, war hoch. Schon Max‘ Vater Nathan war in Pollnow geboren worden. Die Salomons verstanden sich auf das Gerben von Leder. Max‘ Großvater Philipp war Lohgerber gewesen, sein Urgroßvater Isaak Weißgerber und ein anderer Isaak Salomon – wahrscheinlich Philipps Bruder – hatte 1831 die Anlegung einer weiteren Weißgerberei in Pollnow beantragt.2https://www.szukajwarchiwach.gov.pl/de/jednostka/-/jednostka/9811330 Während die Lohgerber für die robusten Leder zuständig waren, aus denen man strapazierfähige Sättel oder Schuhsohlen herstellen konnte, kümmerten sich die Weißgerber um die feinen Leder, wie sie für Handschuhe gebraucht wurden. Etwas hatten beide Verfahren aber gemein: sie brauchten viel Wasser, sie waren ungesund und sie rochen nicht gut. Beliebte Nachbarn waren Gerber in keinem Fall.

Nathan Salomon wollte für seine Familie mehr, keine langen Arbeitstage in Feuchtigkeit und Gestank. Experte in Sachen Leder war er, Zeit also, sich aus der Gerberei zurückzuziehen und auf den Handel mit den Tierhäuten zu konzentrieren.

Lohgerber 1880
Anonymous artist, Lohgerber 1880, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

Max Salomon war das erste von fünf Kindern von Nathan Salomon und seiner Frau Marie Treuherz Rosenbaum. Marie stammte aus Crossen an der Oder – mit mehr als 6000 Einwohnern im Vergleich zu den gerade mal 1400 Menschen in Pollnow fast eine richtige Stadt. Pollnow hatte nicht einmal eine Synagoge und kaum potentielle Kunden, um einen florierenden Lederhandel aufzubauen. Und blühen musste das neue Geschäft, denn die Familie war gewachsen. Auf Max folgten drei Schwestern, Anna, Pauline und Martha.

Stammbaum Max Salomon

eigene Grafik

Je größer die Familie wurde, desto stärker der Wunsch, einen Neustart in der Stadt zu versuchen. Spätestens 1867 war es soweit. Die Familie Salomon kehrte der Lederherstellung in Pollnow den Rücken und ließ sich in Landsberg an der Warthe nieder. In zentraler Lage in der Richtstraße 383Adressbuch von Landsberg/Warthe 1894 eröffneten die Eltern Nathan und Marie ein Lederwarengeschäft. Mit der Geburt von Sohn Philipp, dem fünften Kind, war die Familie komplett.

Quelle: Stiftung Brandenburg Fürstenwalde, PK002329

Nathan und Marie Salomon war der Aufstieg gelungen, sie hatten die pommersche Provinz und das körperlich fordernde Handwerk hinter sich gelassen und für ihre Kinder wollten sie noch mehr. Sie setzten auf Bildung – zumindest die Söhne sollten eine gute Schule besuchen. Max Salomon ging auf das Realgymnasium in Landsberg, ein guter Schüler, der für seine Leistungen in der Obertertia eine Prämie erhielt.4Programm des Gymnasiums mit Realklassen zu Landsberg an der Warthe 1869/70, S. 45 1870 verließ er die Schule mit der Obersekundareife.5Programm des Gymnasiums mit Realklassen zu Landesberg an der Warthe 1869/70, S. 53 Gerade rechtzeitig zum Beginn des Deutsch-Französischen Krieges. Es ist unwahrscheinlich, dass Max Salomon in den Krieg ziehen musste.6Mit bestem Dank an Hans Peter Lindemann, der mich auf das „Gedenkbuch an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870-71 für die deutschen Israeliten“ verwies, in dem die Landsberger Teilnehmer, nicht aber Max Salomon aufgeführt sind. Zudem sei dieser zu Kriegsbeginn zu jung gewesen. Wie und wo er eine Berufsausbildung erhielt, ist nicht überliefert. Aber klar ist: Max wurde Kaufmann wie sein Vater. Interesse an der elterlichen Lederhandlung in Landsberg hatte er allerdings nicht. Als ältester Sohn wäre er sicherlich ein idealer Kandidat für die Übernahme des Geschäfts gewesen. Das überließ er aber Hugo Noack, dem Mann seiner Schwester Pauline, der den Laden viele Jahre erfolgreich führen würde. Vielleicht war ihm Landsberg zu geschäftig, vielleicht vermisste er das Pommern seiner Kindheit, vielleicht gab es einen ganz anderen Grund. Jedenfalls stieg Max Salomon in den Handel mit Getreide- und Handelssämereien ein, in einer Kleinstadt etwa 140 Kilometer nördlich von Landsberg und keine hundert Kilometer westlich von Pollnow entfernt: in Schivelbein.

Der Mühlenbesitzer von Schivelbein

Am 9. August 1879 wurde die Firma Max Salomon Schivelbein ins Handelsregister eingetragen.

Jetzt war ein guter Zeitpunkt gekommen, eine Familie zu gründen. Mit der Kaufmannstochter Therese Edel aus Anklam hatte Max Salomon die Richtige gefunden. Am 7. März 1884 kam ihr erster Sohn Kurt in Schivelbein auf die Welt.7Standesamt Schivelbein Geburten, 1884/042 Zu dieser Zeit wurde Max Salomon als Kaufmann geführt, der zwar bereits mit Getreide handelte, aber noch keine eigene Mühle besaß.

Die Mühle neben dem Schloss und direkt an der Rega hatte eine über 500jährige Geschichte hinter sich, war mehrfach neu- und umgebaut worden.8Zur Geschichte der Schlossmühle Bis Anfang des 19. Jahrhunderts stellte die Wassermühle für die Müller fast so etwas wie eine Lebensversicherung dar, denn durch den bis 1808 geltenden Mühlenzwang waren die Schivelbeiner Bauern verpflichtet gewesen, ihr Getreide hier mahlen zu lassen. Als diese Regelung wegfiel wurde es immer schwerer, die Mühle gewinnbringend zu betreiben. Lange stand sie leer und entsprach irgendwann auch nicht mehr dem Stand der Technik. Zwischen 1813 und 1828 unternahm die „Königliche Preußische Domainen-Kammer“ drei Anläufe, die Mühle zu verkaufen oder zu verpachten. Irgendwann war man erfolgreich, denn 1851 wurde das dreistöckige Produktionsgebäude errichtet, das das Mahlen wieder wirtschaftlich machte. Müller musste man schon lange nicht mehr sein, um eine Mühle zu besitzen, in Pommern galt ab 1811 Gewerbefreiheit. Doch ein kluger Kaufmann sollte man tunlichst sein, um mit dem Getreidemahlen Geld zu verdienen. Max Salomon ergriff die Chance. Mit Getreidesamen handelte er weiter, anfänglich auch mit Spiritus, dann kam ein Holzsägewerk dazu, aber das wesentliche Geschäft war die Mühle selber. Mittlerweile war sein zweiter Sohn Paul geboren9Standesamt Schivelbein Geburten, 1887/28 und als 1889 Tochter Käthe auf die Welt kam10Standesamt Schivelbein Geburten, 1889/134, war er bereits stolzer Mühlenbesitzer.

Die Salomons schickten ihre Söhne auf die höhere Schule, die es in Schivelbein damals noch nicht gab. Für Kurt und Paul ging es nicht ins nahe Belgard oder nach Köslin, sondern sie besuchten wie schon ihr Vater das Königliche Gymnasium in Landsberg an der Warthe.11Festschrift zur Feier des 50jährigen Jubiläums des königlichen Gymnasiums zu Landsberg a.W., S. 155 und 156 Wohnen konnten sie sicherlich bei den Großeltern, Onkel oder Tanten. Aber heim nach Schivelbein ging es wahrscheinlich nur in den Ferien. Vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass sich privat ein Schatten über die Familie Salomon gelegt hatte. Therese Salomon musste den Kampf mit Dämonen aufnehmen, dem sie nicht gewachsen war. Im Alter von nur 46 Jahren starb sie 1906 in der Heilanstalt Bergquell-Frauendorf bei Stettin12Standesamt Frauendorf Sterbefälle, 1906/057, einem privaten Krankenhaus für psychisch Kranke.13Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und Bild, Halle 1910, S. 541 ff

Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung 28.04.1906

Max Salomon, damals 53 Jahre alt und jetzt allein mit drei Kindern, heiratete nicht wieder. Sein Weg der Verarbeitung schien darin zu bestehen, sich in die Arbeit zu stürzen.

Das Mühlengeschäft lief gut und sicherte den Lebensunterhalt nicht nur der Salomons, sondern auch anderer Menschen. Müller und Arbeiter für den Mühlbetrieb, kaufmännische Angestellte, ein Lehrling im Kontor.

Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung 18.09.1904

Und ein Pferde- und Fuhrknecht. Richard Dobke aus Nelep hatte klare Grundsätze, von denen er nicht abwich. Als überzeugter Sozialdemokrat, Christ und Pazifist war er den überwiegend deutschnational eingestellten Gutsbesitzern suspekt. So einen holte man sich nicht auf den Hof. Glück für Max Salomon und ganz Schivelbein – Richard Dobke bekam nicht nur die Zugpferde ohne jeden Peitschenschlag in den Griff, sondern hatte auch eine guten Überblick über die Bauernhöfe der Umgebung. Bei ihnen holte er das Getreide für die Mühle, lieferte Mehl und sorgte dafür, dass die Knechte nach getaner Arbeit den Weg auf den Hof zurückfanden. Er hatte ein Auge auf die durstigen Männer, die an ihrem freien Abend nach Schivelbein kamen, rauf- und trinklustig. Richard Dobke war so etwas wie ein Hilfspolizist – erst schlichtete er den Streit, dann wies er den orientierungslosen Betrunkenen und ihren Pferden den richtigen Weg nach Hause.14Quelle: Erinnerungen von Michael Harr, Enkel von Richard Dobke

Zur Mühle gehörte eine Landwirtschaft, 30 Kühe, Ackerpferde, Hühner, Schweine, Enten und Gänse, Gemüse- und Blumengärten, Roggen-, Hafer- und Kartoffelfelder.15Brief von Margot Guggenheim an Dr. Karl Schlösser vom 13.07.1989, Stadtarchiv Worms, Abt. 170, Nr. 32 Auch hierfür brauchte es fleißige Hände.

Gutes Personal und gute Geschäfte: Max Salomon konnte anbauen. 1912 entstand auf dem Mühlengelände die „Villa Salomon“, sein Wohnhaus mit der charakteristischen Figur der Demeter, der griechischen Göttin der Fruchtbarkeit. Auch eine weitere Villa direkt neben der Mühle wurde gebaut, in die später Tochter Käthe mit ihrer Familie einziehen sollte.

Die Villa Salomon in Świdwin (eigene Bilder)

Mit 60 Jahren beschloss Max Salomon, den Betrieb in jüngere Hände zu legen: im Januar 1913 übertrug er die Firma seinem Sohn Kurt, der mittlerweile Kaufmann war.

Die wirtschaftliche Lage wurde schwieriger. Mit Kriegsbeginn 1914 setzte die Inflation ein, die 1923 ihren Höhepunkt fand. Kurt Salomon versuchte sich 1922 noch an einer Zweigniederlassung in Berlin, die aber nur zwei Jahre Bestand haben sollte. Die Weltwirtschaftskrise gab dem Unternehmen wie so vielen anderen in Deutschland den Rest. 1932 musste Kurt Salomon Konkurs anmelden. Am 20. Dezember 1935 erlosch die Firma Max Salomon Schivelbein.

Berliner Handelsregister 1924
Meldungen im Reichsanzeiger

Zur schwierigen Wirtschaftslage kamen jetzt auch politische Probleme hinzu. Alfred Roth, ein radikaler Antisemit, veröffentlichte nach dem 1. Weltkrieg unter dem Pseudonym Otto Armin ein klassisches Werk der Dolchstoßlegende. In „Die Juden in den Kriegs-Gesellschaften und in der Kriegs-Wirtschaft“ beschuldigte er die Firma Salomon, während des Krieges den Feind mit Getreide beliefert zu haben. Deutsche Kriegsgefangene hätten 1918 in Dünkirchen Hafersäcke verladen müssen, auf denen „Salomon Schivelbein“ gestanden habe.16Otto Armin: Die Juden in den Kriegs-Gesellschaften und in der Kriegs-Wirtschaft, S. 64 1940 hetzte sogar „Der Stürmer“ mit dieser Geschichte. Ein Beweis, etwa ein Bericht einer seriösen Zeitung oder gar eine gerichtliche Klärung, ist nicht bekannt.

„Der Stürmer“ 27.06.1940

Wahrscheinlich ein kluger Schachzug von Max Salomon, sich in diesen schwierigen Zeiten aus der Firma herauszuziehen. Zu tun hatte er trotzdem genug.

Die Seele der jüdischen Gemeinde

Die jüdische Gemeinde der Stadt lag den Salomons schon lange am Herzen. Seit 1888 hatte sich Max Salomon hier engagiert. Erst war er für den Wohltätigkeits-, dann für den Beerdigungs- und später für den Geselligkeitsverein zuständig. Auch seine Frau Therese war mit dabei – fünf Jahre lang, von 1892 bis 1897 leitete sie den Israelitischen Frauenverein. 1899 stieg Max Salomon in den Vorstand der Synagogengemeinde auf, ein Amt, das er bis zu seinem Tod innehaben sollte.17Statistische Jahrbücher des deutsch-israelitischen Gemeindebundes 1888 ff.

Mit Siegmund Saul hatte Max Salomon über viele Jahre einen erfahrenen Lehrer, Prediger und Kantor an seiner Seite.18https://belgard.org/orte/schivelbein/juedische-gemeinde/die-schivelbeiner-rabbiner/ Als Synagogendiener fungierte ein Mann, auf den sich die Salomons auch beim Betrieb der Mühle verlassen konnten: Richard Dobke, der Pferde- und Fuhrknecht. Er kümmerte sich nicht nur um das Gotteshaus, sondern half auch beim Schächten und bei Beerdigungen. Hier brauchte es einen erfahrenen Kutscher, der den Sarg auf den außerhalb von Schivelbein gelegenen jüdischen Friedhof transportierte. Keine leichte Aufgabe, die Pferde waren nervös, denn sie witterten den Leichengeruch. Sozialdemokrat und Unterstützer der jüdischen Gemeinde – ohne einen guten Freund bei der örtlichen Polizei wäre es ab 1933 sehr schwer geworden für Richard Dobke.19Quelle: Erinnerungen von Michael Harr, Enkel von Richard Dobke

Max Salomon war auch hier auf seine Mitarbeiter angewiesen, denn Probleme gab es genug. Ärgerliche, aber überwindbare wie der Einbruch in die Synagoge im Oktober 1910, bei dem „Silbergeräte für etwa 1000 Mark“ gestohlen wurden.20Israelitisches Familienblatt 28.10.1910, S. 5 Eine weitaus größere Tragik war, dass die jüdische Gemeinde Schivelbeins im Ersten Weltkrieg sieben gefallene Mitglieder zu betrauern hatte.21Wolfgang Wilhelmus: Geschichte der Juden in Pommern, S. 130 Die größte Sorge dürfte Max Salomon aber das Schrumpfen der Gemeinde bereitet haben. Lebten in Schivelbein zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch 400 Jüdinnen und Juden, waren es 1932 gerade noch 155.22Wolfgang Wilhelmus: Geschichte der Juden in Pommern, S. 158 Dieser Trend betraf nicht nur Schivelbein, sondern alle jüdischen Gemeinden in Pommern. Die Sogkraft des nahen Berlins, aber auch die antijüdischen Ausschreitungen Anfang der 1880er-Jahre sorgten für die Abwanderung der jüdischen Bevölkerung aus den ländlichen Gebieten Pommerns.

Das Engagement von Max Salomon für die jüdische Sache machte an den Grenzen der Stadt nicht halt. Er vertrat die Interessen der Schivelbeiner Gemeinde im Deutsch-Israelitischen Gemeindebund, er war Vorsitzender der Ortsgruppe des „Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“,23Central-Verein-Zeitung, 18.01.1923, S. 19 Mitglied im Kuratorium für die Fürsorgeerziehung des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes24https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/9576201?query=%22Max%20Salomon%22 und als Vertreter der Schivelbeiner Mitglieder im ESRA – dem Verein zur Unterstützung ackerbautreibender Juden in Palästina und Syrien25Festschrift zum 25-jährigen Jubiläum des „ESRA“, S. 54 – glaubte er an die zionistische Idee.

In der Mitte der Schivelbeiner Gesellschaft

Max Salomon genoss hohes Ansehen auch unabhängig von seiner Religion, in der Stadt und über die Grenzen Schivelbeins hinaus. Als Mitglied der Handelskammer in Köslin vertrat er die Interessen der Schivelbeiner Kaufleute von 1904 bis 1913. 26Ostpommersche Wirtschaft März/April 1925, S. 37 In wirtschaftlich schweren Zeiten war er ein gefragter Berater in Konkursverfahren, die viele Schivelbeiner Betriebe trafen.

Deutscher Reichsanzeiger 1925

Aber sein größter Erfolg dürfte die Wahl in den Kreistag 1903 gewesen sein. Stolz verkündete der Gemeindebote, die Beilage zur Allgemeinen Zeitung des Judentums, am 30.10.1903, dass Max Salomon als zweiter Jude unter acht Abgeordneten künftig dem Kreistag von Schivelbein angehören würde.27https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/3296871?query=%22Max%20Salomon%22%20Schivelbein Wichtige Entscheidungen für Stadt und Kreis standen in den folgenden Jahren an. Die Bewilligung eines Zuschusses von 3000 Mark im Frühjahr 1910 für die Errichtung eines Bismarckturms war ein Beschluss, der bis heute sichtbare Spuren hinterlassen hat.28https://www.bismarcktuerme.net/schivelbein

Der Bismarckturm in Świdwin (eigenes Bild)

Erfolglos versuchte sich der Kreistag gegen seine eigene Abschaffung zur Wehr zu setzen. Viele Jahre stemmten sich Verwaltung und Bevölkerung gegen die Auflösung des Kreises Schivelbein.29https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki/825800 Am 1. Oktober 1932 war es dann trotzdem so weit: der Kreis Schivelbein war Geschichte und die Stadt mit den umliegenden Gemeinden gehörten künftig zum Landkreis Belgard.

Das Ende der Familie Salomon in Schivelbein

Hätte Max Salomon nur elf Jahre länger gelebt, wäre er also 90 Jahre alt geworden, dann hätte sein Geburtstag am 8. Januar 1943 in einer anderen Welt stattgefunden. Zu dieser Zeit hätte ihm die Villa Salomon nicht mehr gehört, er wäre aus Schivelbein verjagt gewesen und hätte – mit großem Glück – vermutlich in Berlin in einem engen Zimmer einer überbelegten Wohnung gelebt. An seinem Geburtstagstisch hätten nur noch Enkelin Lisa gesessen, spät am Abend, wenn sie sich im Schutze der Dunkelheit aus ihrem Versteck im jüdischen Krankenhaus hätte stehlen können, und Sohn Paul. Dieser wäre erschöpft von einem langen Tag der Zwangsarbeit zurückgekehrt, ausgemergelt und voller Angst vor der bevorstehenden Deportation. Vielleicht hätte ein Brief oder gar ein Paket aus dem fernen Brasilien auf dem Tisch gelegen. Das Wissen, dass Kurt, Lucie, Margot und Heinz in Rio de Janeiro in Sicherheit waren, wäre ein winziger Lichtblick an diesem traurigen Abend gewesen. Max Salomons Bruder Philipp war tot und alle anderen, seine Tochter Käthe, sein Schwiegersohn Siegbert und seine Enkelin Eva waren nach Auschwitz deportiert und ermordet worden.

Familie Max und Therese Salomon

eigene Grafik

Kurt Salomon

Kurt Salomon schaffte es, mit seiner Familie Deutschland rechtzeitig zu verlassen. In Rio de Janeiro bauten sie sich ein neues Leben auf.

Kurt Salomon hatte 1912 Lucie Dobrin geheiratet, die aus einer angesehenen Kaufmannsfamilie aus Freienwalde stammte.30Verlobungsanzeige Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung 29.05.1912 1914 kam ihre Tochter Margot Alice in Schivelbein zur Welt,31Standesamt Schivelbein Geburten, 1914/0661916 in Berlin der Sohn Heinz.32Rio de Janeiro, Brasilien, Zivilregister, 1870-2012, Heiratseintrag 25.09.1943 Margot machte 1933 gemeinsam mit ihrer Cousine Lisa Meyersohn das Abitur am Rudolf-Virchow-Realgymnasium Schivelbein. Sie heiratete in Brasilien den Juristen Erich Guggenheim, der aus Worms stammte.33Rio de Janeiro, Brasilien, Zivilregister, 1870-2012, Heiratseintrag 05.06.1943 Den Kontakt nach Worms hielt das Ehepaar zeitlebens aufrecht und besuchte die Nibelungenstadt mehrmals nach dem Krieg. Margots Bruder Heinz Salomon heiratete in Brasilien Sarah Naslauski, eine Tochter moldawischer Einwanderer.

Margot Salomon (Mitte) 1933 auf dem Bild der Abiturklasse 1933, unten rechts: Lisa Meyersohn

Kurt Salomons Frau Lucie Dobrin starb mit 100 Jahren in Rio de Janeiro.

Jornal do Brasil 06.02.1992

Paul Salomon

Paul Salomon wurde am 2. März 1943 nach Auschwitz deportiert.34https://collections.arolsen-archives.org/de/document/127212521 Sein genauer Todeszeitpunkt konnte nie ermittelt werden. Zuvor hatte der ehemals erfolgreiche Anwalt in Berlin Zwangsarbeit leisten müssen, zuletzt bei den märkischen Kabelwerken.35Simone Ladwig-Winters: Anwalt ohne Recht: Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933, S. 405

Paul Salomon hatte während seiner Schulzeit in Landsberg an der Warthe in seinem Onkel Philipp ein „role model“ gefunden. Der jüngste Bruder von Max Salomon hatte ebenfalls am Gymnasium in Landsberg Abitur gemacht und als erstes Mitglied der Familie studiert. Er schloss das Studium der Rechtswissenschaften in Berlin am 28. Mai 1888 ab, promovierte dort 1889 und ließ sich später im Stadtteil Tiergarten als Rechtsanwalt und Notar nieder. 1912 wurde ihm der Ehrentitel Justizrat verliehen.36https://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschichte/stolpersteine/artikel.1146363.php Paul Salomon trat in die Fußstapfen seines Onkels, studierte ebenfalls Jura und wurde später in dessen Kanzlei in der Lützowstraße 67 in Berlin als Rechtsanwalt aufgenommen. Nach seinem Studium kämpfte er für Deutschland im Ersten Weltkrieg. Als Offizier nahm er ab August 1914 an mehreren Schlachten in Frankreich teil, geriet bei der Schlacht an der Somme im Juni 1916 in Kriegsgefangenschaft und wurde bis Kriegsende in Toulouse interniert.37Kriegsranglisten und -stammrollen des Königreichs Bayern, I. Weltkrieg 1914 – 1918 (Bayrisches Hauptstaatsarchiv), Kriegsstammrolle 3. Kompagnie Band 1, Nr. 02617 Für seinen Einsatz wurde er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.38Jüdische Volkszeitung 18.12.1914 Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete Paul gemeinsam mit seinem Onkel als Rechtsanwalt und Notar. Ende 1935 wurde ihm das Notariat entzogen, 1938 folgte dann das Berufsverbot.39Simone Ladwig-Winters: Anwalt ohne Recht: Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933, S. 405

Käthe Salomon

Käthe, Siegbert und Eva Meyersohn wurden am 14.12.1942 nach Auschwitz deportiert. Der genaue Todeszeitpunkt ist unbekannt.

Käthe Salomon hatte 1913 den Arzt Dr. Siegbert Meyersohn geheiratet, der im Haus neben der Mühle seine Arztpraxis eröffnete. Die gemeinsamen Töchter Lisa und Eva wuchsen in unmittelbarer Nachbarschaft zum Großvater auf. Für Max Salomon war der Schwiegersohn ein Glücksfall – er würde ihm als Vorsitzender der Synagogengemeinde nachfolgen. Lisa Meyersohn hatte wegen ihrer jüdischen Abstammung nicht studieren können, sondern im jüdischen Krankenhaus in Berlin eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Dort überlebte sie die Verfolgung durch die Nationalsozialisten und wanderte nach dem Krieg nach Brasilien zur Familie ihres Onkels Kurt aus. Sie starb 2001 in Rio de Janeiro. Zur Geschichte der Familie Meyersohn mehr unter Der jüdische Arzt von Schivelbein.

Käthe, Siegbert, Lisa und Eva Meyersohn (privates Bild)

Die Mühle in Świdwin

Das dreistöckige Mühlengebäude aus Backstein und die Villa Salomon haben den Krieg überstanden. Die alten Gebäude säumen noch heute die frühere Mühlenstraße Niedziałkowskiego am Beginn der Świdwiner Innenstadt gegenüber dem Schloss. Die Rega, die damals das große Mühlenrad antrieb, plätschert weiterhin am Mühlenareal entlang. Einige Jahre führte der 1946 verstaatlichte Betrieb ein Schattendasein, aber ganz aktuell wurde dem Gebäude neues Leben eingehaucht: das Haus ist restauriert, ein stimmungsvolles Restaurant40ka-jo.pl/de/ ist entstanden mit Tischen, um die sich heute polnische Familien versammeln. Max Salomon hätte das bestimmt gefallen.

Die Schlossmühle heute (eigenes Bild)

Fast ein Nachwort – Was war anders an uns?

Margot Guggenheim, geb. Salomon stand viele Jahre in Briefkontakt mit Dr. Karl Schlösser aus Worms. Am 13. Juli 1989 fragte sie ihn in einem ihrer vielen Briefe: „Worin besteht das typisch Jüdische? Warum bin ich von Kindheit an von anderen Kindern angegriffen worden und habe ein Anderssein gespürt, ohne es definieren zu können? Mein Großvater hatte 2 Mühlen und Landwirtschaft, die mein Vater übernommen hatte. Wir hatten 30 Kühe, Ackerpferde, Hühner, Schweine, Enten und Gänse, wir hatten Gemüse- und Blumengärten, und wir hatten Roggen-, Hafer- und Kartoffelfelder. Und doch verkehrten meine Eltern nur mit Glaubensgenossen, obgleich wir angesehene Bürger waren. Was war anders an uns?“41Brief von Margot Guggenheim an Dr. Karl Schlösser vom 13.07.1989, Stadtarchiv Worms, Abt. 170, Nr. 32

Dieser Beitrag hat 8 Kommentare

  1. Klaus Klitzke

    Herzlichen Dank für ihre ausgezeichnete Arbeit um einen interessanten Teil Schivelbeins.
    Ich bin 1940 in Schivelbein geboren.

  2. Hans Joachim Schmidt

    das ist historisch bedeutsam und sollte verfilmt werden

  3. Ireck Litzbarski

    Sehr interessant. Vielen Dank.
    Liebe Grüße und Hochachtung.

  4. Hartmut Jeske

    Mein Vater nebst Familie kommt aus Schivelbein. Dein Beitrag ist ein Zeit Zeugnis und sehr interessant.
    Danke dafür

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