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Heymann Jacobus und die Krawalle von Schivelbein

Wortlos stieg Heymann Jacobus im Halbdunkel über die Reste dessen, was vor ein paar Tagen sein ganzer Stolz gewesen war. Durch die hastig angenagelten Bretter vor den Fenstern, die die zersplitterten Scheiben ersetzten, drang nur wenig Licht in das Ladengeschäft am Schivelbeiner Marktplatz. Scherben, geborstenes Holz, verrußte Wände, Pfützen auf dem Boden und über allem der Gestank von Spiritus. Hier war nichts mehr zu retten, die gesamte Inneneinrichtung war demoliert. Beide Ladenkassen waren erbrochen, der Inhalt geraubt1Berliner Tageblatt Morgenausgabe, 10. Jg. Nr. 551 vom 24.11.1881, S. 5 und sämtliche Waren aus den vormals gut gefüllten Regalen verschwunden. Alle Spirituosen, an die 5000 Zigarren, bestimmt 30 Zuckerhüte, nichts war mehr übrig.2Der Wächter, Bielefelder Zeitung, 17. Jg. Nr. 186 vom 12.08.1881, S.3 Was die Randalierer nicht direkt aus dem Laden gestohlen hatten, war auf dem Marktplatz gelandet, wo sich die Pöbelweiber bedient hatten.3Echo der Gegenwart Aachen, 33. Jg. Nr. 217 vom 12.08.1881, S. 2 Nach über 20 Jahren würde er ganz von vorne anfangen müssen.

Die Familie Jacobus

Ephraim Jacobus und seine Frau Philippine, genannt Pine, waren Anfang des 19. Jahrhunderts aus dem Kreis Deutsch Krone nach Schivelbein gekommen. Ephraim Jacobus war ein gelehrter Mann, er hatte die „hohe jüdische Schule zu Dt. Friedland“ besucht, wo ihn sein Vater Jacob Lenschütz unterrichtete. Ephraim und Pine hatten zehn Kinder und gute Bildung für seinen Nachwuchs war Ephraim wichtig.4Aufzeichnung Frida Jacobus aus Sammlung Eva Podietz bei Leo Baeck Institute, LBI Archives AR 12065 Pines Wunsch war es, „ihre Kinder wohlerzogen in die Welt zu stellen.“5Tagebuch des Haimann Jacobus 1848, S. 1, aus der Sammlung Eva Podietz bei Leo Baeck Institute, LBI Archives AR 12065 Aber die Zeiten waren schwer, Ephraim Jacobus musste wirtschaftliche Rückschläge einstecken und irgendwann blieb nur noch der „Hausierhandel zu Fuß“.6Tagebuch des Haimann Jacobus 1848, S. 1, aus der Sammlung Eva Podietz bei Leo Baeck Institute, LBI Archives AR 12065

Ephraim Jacobus, mit freundlicher Genehmigung des Leo Baeck Institute
Pine Jacobus, mit freundlicher Genehmigung des Leo Baeck Institute

Heymann Ephraim Jacobus war das siebte Kind von Ephraim und Pine. Er wurde 1827 in Schivelbein geboren und besuchte dort sowohl die deutsche als auch die jüdische Schule. Beruflich in die Fußstapfen des Vaters treten konnte er nicht – seine zwei älteren Brüder Salomon und Bentheim waren bereits Hausierer geworden. Das jüdische Zeremonialgesetz, wonach Juden am Schabat nicht arbeiten dürfen, machte es ihm schwer, im kleinen Schivelbein mit einer geringen Anzahl von jüdischen Betrieben eine Ausbildungsstelle zu finden.7Tagebuch des Haimann Jacobus 1848, S. 1, aus der Sammlung Eva Podietz bei Leo Baeck Institute, LBI Archives AR 12065 In Greifenberg wurde er schließlich fündig und keine zehn Jahre später war er dort Eigentümer eines „Tuch- und Modewaaren-Geschäfts“.8Allgemeine Zeitung des Judenthums, 24. Jg. Nr. 6 vom 07.02.1860, S. 92 Jetzt war die Zeit gekommen, eine Familie zu gründen. Mit Henriette Meyer fand er die richtige Frau und die ersten beiden Kinder des Paars, Emil und Ernestine, kamen in Greifenberg zur Welt. Doch 1860 zog es ihn zurück nach Schivelbein, aus familiären Gründen. Sein Vater Ephraim war gestorben, vielleicht wollte er sich um seine Mutter Pine kümmern, vielleicht war es einfach nur an der Zeit, wieder in die Heimat zurückzukehren. Also verkaufte er seinen Laden in Greifenberg, stieg aus der Textilbranche aus und probierte etwas Neues: ein Destillations-Geschäft sollte es künftig sein. Am 8. Juni 1860 kaufte er das Wohn- und Geschäftshaus am Schivelbeiner Markt 149Grundbuch von Schivelbein Band I, Blatt 139 und eröffnete seinen neuen Laden.

Allgemeine Zeitung des Judenthums, 24. Jg. Nr. 6 vom 07.02.1860, S. 92
Allgemeine Zeitung des Judentums, 29. Jg. Nr. 11 vom 14.03.1865, S. 172
Quelle10Nachweisung der im Deutschen Reiche gesetzlich geschützten Waarenzeichen, herausgegeben im Auftrag des Reichsamts des Innern
II. Band Gruppe XII Nahrungs- und Genussmittel
1888 S. 191

In Destillationsgeschäften wurden im 19. Jahrhundert nicht nur Hochprozentiges verkauft, sondern auch Liköre und Branntwein hergestellt und ausgeschenkt. Viele dieser Destillationsgeschäfte wurden von Juden betrieben.11https://raawi.de/die-vergessene-geschichte-der-juden-in-der-alkoholindustrie Für Heymann Jacobus bedeutete der Laden am Schivelbeiner Marktplatz einen bescheidenen Wohlstand, der seine wachsende Familie ernähren konnte. Drei weitere Kinder kamen in Schivelbein auf die Welt. Doch nur zwei Wochen nach der Geburt ihrer jüngsten Tochter starb die Mutter im Mai 1866.12Grabinschrift Todesdatum 05.06.1866 Die Tochter, die ihren Namen trug, Henriette. Auf dem jüdischen Friedhof in Schivelbein wurde Heymann Jacobus‘ Frau zu Grabe getragen.

Grab von Henriette Jacobus geb. Meyer auf dem jüdischen Friedhof in Schivelbein, mit freundlicher Genehmigung des Center for Jewish Art, Bezalel Narkiss Index of Jewish Art, (https://cja.huji.ac.il/browser.php?mode=alone&id=553908)

Heymann Jacobus heiratete erneut, Johanna Hesse aus Bosatz in Schlesien. Mit Ende 40 wurde er dann noch zweimal Vater. Als ihm seine Nachbarn das Geschäft kurz und klein schlugen war Heymann Ephraim Jacobus 54 Jahre alt und Vater von sieben Kindern.

eigene Graphik

Die Krawalle

Der Neustettiner Synagogenbrand und Ernst Henrici

Um 1880 entwickelte sich im deutschen Kaiserreich das, was schnell als Radau-Antisemitismus bezeichnet wurde.13Jahr, Christoph in Benz, Wolfgang: Handbuch des Antisemitismus, S. 270 ff. Einer der Ideengeber und Agitatoren war der Berliner Gymnasiallehrer Ernst Henrici, der ganz offen zur Gewalt gegen Juden aufrief. Und das erfolgreich, denn immer wieder kam es im Anschluss an seine Reden zu antisemitischen Gewalttätigkeiten.14z.B. Silvester 1880/81 in Berlin, s. Hoffmann, Gerd: Der Prozess um den Brand der Synagoge in Neustettin, S. 13 f. Wegen seines radikalen Antisemitismus wurde Henrici am 4. Januar 1881 aus dem Schuldienst entlassen.15Hoffmann, Gerd: Der Prozess um den Brand der Synagoge in Neustettin, S.249 Das verschaffte ihm Zeit und Gelegenheit, auch außerhalb Berlins zu zündeln. „Der bekannte Dr. Henrici hat sich jetzt Hinterpommern als neues Probierfeld für seine antisemitistischen Salbadereien ausersehen. Mitte dieses Monats wird derselbe hier und in anderen Orten Hinterpommerns Agitationsvorträge gegen die Juden halten“, kündigte die Israelitische Wochenschrift am 9. Februar 1881 die erste Pommernreise Henricis an.16Israelitische Wochenschrift für die religiösen und socialen Interessen des Judenthums, 12. Jg. Nr. 6 vom 09.02.1881, S. 56 Zu Sätzen wie „Der Jude ist nicht zur produktiven Arbeit sondern ausschließlich zum Schacher geneigt. Das größte Unglück ist aber die verjudete Presse“, erntete er am 13. Februar 1881 in Neustettin stürmisches, nicht enden wollendes Bravo und ein dreimaliges Hoch auf den Redner.17Hoffmann, Gerd: Der Prozess um den Brand der Synagoge in Neustettin, S. 24 f. Am 18. Februar 1881 brannte die Synagoge von Neustettin.

Carl Ernst Julius Henrici
* 10.12.1854 in Berlin
† 10.07.1915 in Döbeln
Einst hoffnungsvoller Sprachwissenschaftler und Lehrer radikalisierte er sich und scheiterte dann als Politiker, Kolonialabenteurer und Wissenschaftler.
18s. Hoffmann, Gerd: Der Prozess um den Brand der Synagoge in Neustettin, Biobibliographische Anmerkungen zu Ernst Henrici ab S. 247

Die Anschuldigungen flogen hin und her, das Werk von Antisemiten, Henricis Saat sei aufgegangen, das schien vielen auf der Hand zu liegen. Nein, das waren die Juden selber, um die Versicherungssumme zu kassieren, schimpften andere. Die Ermittlungen kamen nicht voran, dafür heizte sich die Stimmung weiter auf. „Die Aufregung im Pommernland wurde immer größer“,19Hoffmann, Gerd: Der Prozess um den Brand der Synagoge in Neustettin S. 34 feixte Henrici und tat alles dafür, die Funken weiter am Glimmen zu halten. Ende Juni reiste er ein zweites Mal nach Pommern und sprach unter anderem in Bärwalde, Neustettin, Pielburg, Ratzebuhr, Bublitz, Polzin, Köslin und Hammerstein.20z.B. Hoffmann, Gerd: Der Prozess um den Brand der Synagoge in Neustettin S. 41 Und sein Plan ging auf. Am 7. August 1881 berichteten die Zeitungen: „Aus Pommern bringen die Provinzialblätter von allen Seiten Nachrichten über antisemitische Ausschreitungen. In Bublitz wurden am 31. Juli zwölf der Haupttumultuanten arretiert. In Schivelbein nahm die Polizei am 30. Juli mehrere Verhaftungen vor.“.21Frankenberger Tageblatt (Sachsen), Nr. 182/1881 vom 07.08.1881, S. 2 Den Schivelbeiner Juden stand jedoch noch Schlimmeres bevor.

Die Schivelbeiner Excesse

Schon seit Tagen rumorte es in der Stadt. Die Geschehnisse in Neustettin hatten auch in Schivelbein eine Lunte entzündet. Es waren zunächst nur unbedeutende Auflaufe gewesen,22Der Israelit, 22. Jg. Nr. 34 vom 24.08.1881, S. 854 aber etwas lag in der Luft. So spürbar, dass sich die Polizeiverwaltung am Samstag, den 6. August 1881 entschloss, eine Warnung zu erlassen.23Berliner Tageblatt Abend-Ausgabe, 10. Jg. Nr. 550 vom 23.11.1881, S.3 Am nächsten Tag schien dies zunächst vergessen, die Schivelbeinerinnen und Schivelbeiner zog es an diesem Sonntag vor die Tore der Stadt, wo bei mildem Sommerwetter ein Jahrmarkt Karussells und Buden aufgebaut hatte.24Neue Westfälische Volks-Zeitung, 5. Jg. Nr. 279 vom 29.11.1881, S. 2 Die Stimmung war ausgelassen, die Menschen amüsierten sich und prosteten sich mit reichlich Bier zu. Der Alkohol zeigte bald seine Wirkung, die Atmosphäre heizte sich auf und schwappte vom Festplatz in die Stadt hinüber. Dort auf dem Markplatz brodelte es, die Stimmung der letzten Tage, der Alkohol, alles kam zusammen. Und dann griff ein betrunkener Ziegler nach seinen Rockschößen und tanzte um den Kandelaber, die Straßenlaterne mitten auf dem Platz. „Hepp, Hepp“, schrie er und die Menge grölte.25Berliner Tageblatt Abend-Ausgabe, 10. Jg. Nr. 550 vom 23.11.1881, S.3 Jetzt reichte es den Gendarmen, sie bahnten sich den Weg durch die vielen Menschen und griffen sich den Ziegler. Unter Gejohle und Protest der Masse schoben ihn die Polizisten durch die Straßen Richtung Rathaus, um ihn dort in einem der Arrestlokale festzusetzen.

Der Schivelbeiner Marktplatz um 1830, in der Mitte der Kandelaber

Die jüdischen Kaufleute und Handwerker der Stadt waren auf den Marktplatz geeilt. Samuel Salinger, Max Gutmann, Lewin Mannheim und viele andere steckten sorgenvoll die Köpfe zusammen. „Hepp, Hepp,“, seit Jahrzehnten rief man dies den Juden hinterher und nie in freundlicher Absicht. Rabbiner Rackwitz versuchte, die besorgten Menschen zu beruhigen, „in unserem gemüthlichen Städtchen herrschte stets Friede und Eintracht zwischen Juden und Christen.“26Bericht Hirsch Rackwitz in: Allgemeine Zeitung des Judenthums, 45. Jg. Nr. 38 vom 20.09.1881, S. 625 Alarmiert durch das, was Tage zuvor in Neustettin passiert war, beschlossen die Männer, ihre Läden zu schützen. „Jacobus, sichere Dein Geschäft“, riefen sie ihm zu, aber Heymann schüttelte den Kopf: „Ich habe immer in gutem Einvernehmen mit meinen Mitbürgern gelebt“.27Berliner Tageblatt Morgen-Ausgabe, 10. Jahrgang Nr. 551 vom 24.11.1881, S. 5 Die Männer um ihn herum lächelten – Heymann Jacobus, ein Mann, der keinem Kind etwas zu Leide tut,28Der Israelit, 22. Jg. Nr. 34 vom 24.08.1881, S. 854 das wusste man in Schivelbein.

Das Geschäft von Heymann Jacobus, mit bestem Dank an Rafał Iwanicki

Die Gendarmen mit dem Ziegler, die johlende Menge im Schlepptau, waren zwischenzeitlich am Rathaus angekommen. Mit der Inhaftierung des Unruhestifters müsste die Lage doch wieder unter Kontrolle zu bekommen sein. Aber der alkoholisierte Haufen war außer Rand und Band. Steine wurden geworfen, auf das Gebäude und auf die Gendarmen. Die Scheiben des Rathauses gingen zu Bruch, Polizisten wurden getroffen. Dann prügelten die Randalierer auf die Ordnungshüter ein, bis die sich zurückzogen.29Echo der Gegenwart Aachen, 33. Jg. Nr. 217 vom 12.08.1881, S. 2 Auch Bürgermeister Hermann Kosse musste sich schließlich beugen – er gab den Gefangenen frei.30Berliner Tageblatt Abend-Ausgabe, 10. Jg. Nr. 550 vom 23.11.1881, S.3

Das Schivelbeiner Rathaus

Die Menge war jetzt auf über tausend Personen angewachsen31Echo der Gegenwart Aachen, 33. Jg. Nr. 217 vom 12.08.1881, S. 2 und wie elektrisiert – Recht und Gesetz waren bezwungen, jetzt sollte es den Juden an den Kragen gehen. Grölend zog man zurück zum Marktplatz. Die Geschäfte der Israeliten waren das Ziel. „Die Läden und Jalousien wurden mit Brechstangen und Aexten zertrümmert: die Bewohner flüchteten sich auf die Böden oder zu christlichen Nachbarn. Die Menge drang in die Häuser ein, und zertrümmerte alles, was nicht niet- und nagelfest war.“32Echo der Gegenwart Aachen, 33. Jg. Nr. 217 vom 12.08.1881, S. 2 Die Waren wurden auf den Marktplatz geschmissen, wo sie „zerstört, gestohlen oder in die Rega geworfen“ wurden.33Der Israelit, 22. Jg. Nr. 34 vom 24.08.1881, S. 854 „Die Weiber, welche den Tumultuanten folgten, zerschlugen noch, was die ersteren verschont hatten und stahlen furchtbar.“34Echo der Gegenwart Aachen, 33. Jg. Nr. 217 vom 12.08.1881, S. 2 Im Laden von Heymann Jacobus „rannen die Schnapsvorräthe in die Kehlen der Plünderer hinab: die Furie war entfacht, die Raserei hatte ihren Höhepunkt erreicht.“35Der Wächter, Bielefelder Zeitung, 17. Jg. Nr. 186 vom 12.08.1881, S.3 „Bei H.E. Jacobus hat der Pöbel am meisten gewüthet, es wurden alle Schnapsfässer auf den Markt geworfen, sowie Flaschen mit Liqueren und andere Materialien.“ 36Echo der Gegenwart Aachen, 33. Jg. Nr. 217 vom 12.08.1881, S. 2 „Brennende Streichhölzer wurden in die mit Spirituosen gefüllten Fässer geschleudert, und nur durch das rasche Einschreiten einiger Besonnenen wurde das Feuer im Entstehen gelöscht und entsetzliches Unglück verhütet.“37Der Wächter, Bielefelder Zeitung, 17. Jg. Nr. 186 vom 12.08.1881, S.3

Nachdem in den jüdischen Geschäften am Marktplatz gewütet worden war, zog die Menge weiter in eine der Querstraßen. Im Wohnhaus der Brüder Samuel und Itzig Samuel wurde alles demoliert und zum Fenster hinausgeworfen, Spinde, Kommode, Tische, Stühle, Betten, Wäsche u.s.w., dann wurde der Torweg erbrochen, das Pferd weggeführt und der Wagen in die Rega geschoben. Es blieb in den Stuben nichts weiter als die vier Wände, nur das eiserne Spind trotzte dem Pöbel. Die Brüder versteckten sich, aber die Randalierer fanden den 64jährigen Samuel Samuel und schlugen ihm die Zähne ein. Sein Bruder Itzig wurde am nächsten Morgen völlig verängstigt im Keller gefunden.38Gummersbacher Zeitung Nr. 93 vom 13.08.1881, S. 1 Mehr als vier Stunden wütete der Mob in der Stadt.39Der Israelit, 22. Jg. Nr. 34 vom 24.08.1881, S. 854 Die Polizei musste hilflos zusehen – diesem Ausmaß von Gewalt war sie nicht gewachsen. Dann endlich ein Trompetensignal – der Schivelbeiner Kriegerverein hatte Alarm geschlagen. Die Mitglieder rückten mit aufgepflanzten Bajonetten an und konnten endlich wieder Ruhe in der Stadt schaffen. 21 Randalierer wurden festgenommen.

Am Tag nach den Krawallen stand die Stadt unter Schock – der Marktplatz ein Trümmerfeld, die jüdischen Geschäfte geplündert, Wachen der Schützengilde und des Kriegervereins auf Patrouille in der Stadt.40Der Wächter, Bielefelder Zeitung, 17. Jg. Nr. 186 vom 12.08.1881, S.3 Die Arrestlokale quollen über, die festgenommenen Randalierer waren allesamt Schivelbeiner Bürger. „Die Aufregung in Schivelbein war nach wie vor kolossal und besonders der Jammer der Frauen ergreifend.“41Gladbacher Volkszeitung Nr. 95 vom 18.08.1881, S. 2 Und es ging das Gerücht, dass „die Weiber der eingesperrten Excedenten die Stadt in Brand stecken würden“.42Allgemeine Zeitung des Judenthums, 45. Jg. Nr. 38 vom 20.09.1881, S. 626 Schließlich eilte Bürgermeister Kosse nach Köslin zur königlichen Regierung – er brauchte Hilfe, ein zweites Mal wollte er keine Gefangenenbefreiung riskieren. Am Freitag, den 12. August 1881 bot sich den Schivelbeiner Bürgerinnen und Bürgern ein abschreckendes Bild – 50 Kösliner Soldaten mit geladenen Gewehren, einschließlich Tambour und Pfeifer, trieben die gefesselten und mit Stricken aneinander gebundenen Gefangenen zum Zug nach Köslin, wo sie im Geschwindschritt dem Gefängnis entgegengeführt wurden.43Gladbacher Volkszeitung Nr. 95 vom 18.08.1881, S. 2

28 Angeklagte, darunter vier Frauen, mussten sich im November 1881 vor dem Kösliner Gericht wegen Aufruhr, Landfriedensbruch und Plünderei verantworten. Über den Prozess wurde im ganzen deutschen Reich detailliert berichtet.44z.B. Berliner Tageblatt Abend-Ausgabe, 10. Jg. Nr. 550 vom 23.11.1881, S.3, Berliner Tageblatt Morgen-Ausgabe, 10. Jahrgang Nr. 551 vom 24.11.1881, Berliner Tageblatt Abend-Ausgabe, 10. Jg. Nr. 554 vom 25.11.1881, S. 3, Neue Westfälische Volks-Zeitung, 5. Jg. Nr. 279 vom 29.11.1881, S. 2 Am Ende verurteilte das Gericht 22 Schivelbeiner Bürgerinnen und Bürger.45Berliner Tageblatt Morgen-Ausgabe, 10. Jg. Nr. 553, S.6 Bei 21 von ihnen wurden mildernde Umstände angenommen und nur kurze Gefängnisstrafen verhängt. Einen Rädelsführer hatte man nicht ausfindig machen können. Vielleicht hatte man sich aber auch nicht sonderlich angestrengt.

Antreten mussten die Randalierer ihre Strafen nicht sofort. „Als die Verurtheilten, die ein Vierteljahr in Untersuchungshaft gesessen hatten, nach ihrer Heimath Schievelbein zurückkehrten, weil sie vorläufig aus der Haft entlassen worden waren, wurden sie am Bahnhofe von ihren Angehörigen und einer großen Menschenmenge erwartet. Es kam zu erregten Scenen; die Menge brach in wiederholte Hochs aus, als die Inhaftiertgewesenen ausstiegen.“46Echo der Gegenwart Aachen, 33. Jg. Nr. 327 vom 01.12.1881, S. 8

Die Krawalle hatten auch für die Stadtkasse Folgen. In Schivelbein war ein Schaden von 150.000 Mark entstanden47Allgemeine Zeitung des Judentums, Jg. 45, Heft 35, 30.08.1881, S. 570 und nach den Vorschriften des Preußischen Krawallschadensgesetzes musste den die Stadt regulieren. Nachdem der vermögende Rentier Brewing freigesprochen worden war, schwand die Hoffnung, die Verursacher in Regress nehmen zu können. „Bittere Klagen kamen aus den Städten Pommerns, in denen die Judenkrawalle stattgefunden hatten, wegen der den Stadtbehörden zufallenden Entschädigungslast.“48Allgemeine Zeitung des Judentums, Jg. 45, Heft 35, 30.08.1881, S. 570

Wie konnte es so weit kommen?

Judenfeindliche Krawalle gab es im Sommer 1881 nicht nur in Neustettin und Schivelbein. Zwischen Ende Juli und Anfang September des Jahres kam es zu Ausschreitungen in Hammerstein, Dallentin, Bärwalde, Baldenburg, Jastrow, Konitz, Pollnow, Falkenburg, Stettin und Stolp.49Bergmann, Werner: Tumulte – Excesse – Pogrome, S. 511 Ein pommerscher Bürgerkrieg schien sich anzubahnen.50Hoffmann, Christhard: Politische Kultur und Gewalt gegen Minderheiten, S. 93 Das sind Henricis Früchte!, mutmaßten die Zeitungen. Aber warum fielen sie gerade in Hinterpommern auf so fruchtbaren Boden? In einer Provinz, in der Juden schon seit langem ansässig waren und als gut integriert galten.51Hoffmann, Christhard: Politische Kultur und Gewalt gegen Minderheiten, S. 93 Und die zudem mit einem Anteil von unter einem Prozent einen reichsweit sehr geringen jüdischen Bevölkerungsanteil hatte.52Silbergleit, Heinrich: Die Bevölkerungs- und Berufsverhältnisse der Juden im Deutschen Reich, S. 19

In der Öffentlichkeit diskutiert wurden zwei Erklärungsansätze. Die Juden seien schlichtweg selber Schuld durch Wuchergeschäfte und arrogantes Auftreten, argumentierten konservative Kreise und bedienten damit jahrhundertealte antisemitische Vorurteile. Für liberale Anhänger war die antisemitische Propaganda ursächlich für die Krawalle. Wuchervorwurf und Verführung – das gab es an vielen Orten im deutschen Kaiserreich. Aber warum wurden daraus in Hinterpommern gewalttätige Ausschreitungen?

Das Land war vom Konservatismus und der Idealisierung der Gemeinschaften auf den großen Gütern geprägt.53 z.B. v. Eickstedt, Claus: Die berufsständische Lösung der Landarbeiterfrage in Pommern Juden waren hiervon ausgeschlossen, denn ländlicher Grundbesitz und ländlicher Wohnsitz waren ihnen jahrhundertelang nicht erlaubt gewesen.54Silbergleit, Heinrich: Die Bevölkerungs- und Berufsverhältnisse der Juden im Deutschen Reich, S. 10 Die meisten christlichen Pommern lebten von altersher von Landwirtschaft und Handwerk, die Juden waren hingegen vorwiegend im Handel tätig.55Hoffmann, Christhard: Politische Kultur und Gewalt gegen Minderheiten, S. 93 Die Modernisierung der Landwirtschaft im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts forderte von den Bauern Investitionen mit Geld, das sie nur durch Verschuldung aufbringen konnten. Banken und Darlehenskassen fehlten auf dem Land fast völlig. Da blieb als Kreditgeber nur der private Geldhandel, an dem jüdische Geschäftsleute einen überdurchschnittlich hohen Anteil hatten.56Hoffmann, Christhard: Politische Kultur und Gewalt gegen Minderheiten, S. 96 Genügend Potential für Vorurteile, Neid und Konflikte.

Die einfache und wenig gebildete Landbevölkerung Hinterpommerns, das auch als eine der „rückständigsten preußischen Provinzen“57Hoffmann, Christhard: Politische Kultur und Gewalt gegen Minderheiten, S. 94 bezeichnet wurde, schien die Menschen anfälliger für antisemitische Propaganda gemacht zu haben. Antisemitische Zeitungen wie die Neustettiner „Neue Presse“ und antisemitische Vereine hatten den Boden bereitet für die Agitation aus der Großstadt, die Ernst Henrici nach Hinterpommern trug. Als das Kösliner Gericht im Schivelbeiner Prozess fragte, wer der Anführer gewesen sei, antwortete der nichtjüdische Zeuge Kleinig: „Niemand von denen, das sind alles nur arme bethörte Leute, die kenne ich von Jugend auf und noch kann ich es nicht fassen, dass sie so furchtbar verblendet handeln konnten. Der Aufruhr in Schivelbein ist eine Folge der wüsten Agitation gegen die Juden, von der die gemeinen Leute glaubten, dass sie von oben herab begünstigt werde.“58Allgemeine Zeitung des Judenthums, Jg. 45, Heft 50, 13.12.1881, S. 828

Hinzu kam das Verhalten der Regierung.59ausführlich hierzu: Bernhard Vogt: Antisemitismus und Justiz im Kaiserreich: Der Synagogenbrand in Neustettin, S. 390 ff. Insbesondere die widersprüchliche Haltung Bismarcks gegenüber der antisemitischen Bewegung – mal unterstützte er sie, mal sprach er sich dagegen aus – erweckte bei den einfachen Leuten den Eindruck als wäre es im Sinne der Obrigkeit, sich gegen die Juden zu wenden.60Hoffmann, Christhard: Politische Kultur und Gewalt gegen Minderheiten, S. 101 f. „Die Leute haben schließlich geglaubt, sie thäten dem Staate einen Gefallen“, sagte ein Zeuge im Schivelbeiner Prozess.61Allgemeine Zeitung des Judenthums, Jg. 45, Heft 50, 13.12.1881, S. 828

Auch die pommersche Strafverfolgung und Justiz schienen nur mäßiges Interesse an der Ahndung antisemitischer Straftaten zu haben. In Neustettin wurde nie ernsthaft versucht, gegen Antisemiten als Verantwortliche für die Brandstiftung zu ermitteln.62Jahr, Christoph: Antisemitismus vor Gericht, S. 222 Vielmehr wurden fünf Mitglieder der jüdischen Gemeinde vor Gericht gestellt und vier von ihnen vor dem Schwurgericht in Köslin in erster Instanz auch verurteilt63Urteil des Schwurgerichts Köslin vom 22.10.1883, detaillierte Prozessschilderung s. Hoffmann, Gerd: Der Prozess um den Brand der Synagoge in Neustettin, S. 50 ff. – später dann aber vor dem Schwurgericht in Konitz freigesprochen.64Urteil des Schwurgerichts Konitz vom 07.03.1884, detaillierte Prozessschilderung s. Hoffmann, Gerd: Der Prozess um den Brand der Synagoge in Neustettin, S.115 ff. In den meisten Prozessen infolge der Unruhen in Pommern kamen die Angeklagten mit Freispruch oder geringen Strafen davon.65Bergmann, Werner: Tumulte – Exzesse – Pogrome S. 521 Beim Prozess gegen die 28 festgenommenen Schivelbeiner Randalierer vor dem Schwurgericht Köslin wurde ausgerechnet der einzige vom Gericht als Antisemit bezeichnete „vermögende Rentier“ Brewing freigesprochen. Man müsse berücksichtigen, dass er „aus der durch die antisemitischen Hetzereien getrübte Einsicht gehandelt habe“.66Echo der Gegenwart Aachen, 33. Jg. Nr. 327 vom 01.12.1881, S. 8 Antisemitismus als Entschuldigung for Antisemitismus.

In vielen Städten Pommerns blieben die Beziehungen zwischen Juden und Christen nach den Ereignissen des Sommers 1881 nachhaltig gestört.67Hoffmann, Christhard: Politische Kultur und Gewalt gegen Minderheiten, S. 112

Bismarck Bitter – Blüte und Niedergang

Heymann Jacobus überwand die Nacht, in der seine Nachbarn seinen Laden zerstört hatten. Er packte an, reparierte sein Geschäft und baute es zur Likörfabrik aus. Der von ihm kreierte „Bismarck-Bitter“, ein Magenbitter aus den „heilsamsten Kräutern“, wurde so erfolgreich, dass seine Nachfahren die Marke 1911 schützen ließen, „da in neuester Zeit Verfälschungen vorgekommen sind“.68Text Etikett, s. unten Nur echt war der Bismarck-Bitter mit der Unterschrift von H.E. Jacobus. Ein Fläschchen des allein echten Bismarck-Bitter befindet sich heute in der Sammlung der Otto-von-Bismarck-Stiftung.

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Bild Etikett: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger 30.01.1917, S. 16 Bild Warenzeichen: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger 08.12.1911, Warenzeichenbeilage, S. 42
Bild der Flasche mit freundlicher Genehmigung der Otto-von Bismarckstiftung, Inventarnr. O 2017/015

1889 trat Sohn Emil in den Betrieb des Vaters ein69Vierte Beilage zum zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlich Preußischen Staats-Anzeiger Nr. 60 vom 18.03.1889 und führte ihn bis zu seinem Tod. Am 10. September 1936 erlosch die Firma H.E. Jacobus in Schivelbein.70Zentralhandelsregisterbeilage zum Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger Nr. 216 vom 16.09.1936

Heymann Ephraim Jacobus starb am 1. Februar 1902 in Schivelbein.71Standesamt Schivelbein Tote, 1902/011 Nie hätte er sich vorstellen können, dass die Schivelbeiner Krawalle nur ein Vorgeschmack auf das waren, was seinen Kindern und Enkelkinder noch bevorstand. Fünf seiner Kinder erlebten die Demütigungen und Verfolgungen der Shoah unmittelbar in Deutschland. Bis auf seine Tochter Helfriede, die mit über 70 Jahren nach Palästina flüchtete, blieben alle seine Kinder in der Heimat. Seine Enkelkinder, viele von ihnen in Schivelbein geboren, mussten in die ganze Welt flüchten, wanderten aus nach Palästina, Australien, in die USA und nach Uruguay. Enkelin Hedwig schaffte es nicht, sie wurde 1942 nach Sobibor deportiert und später für tot erklärt.

Einige Nachkommen von Heymann Ephraim Jacobus (von links nach rechts)
Urenkelin Lieselotte (Israel), Enkelin Johanna (Uruguay), Urenkel Günther (Israel), Tochter Helfriede (Israel), Urenkelin Ruth (Israel) mit Urenkel Horst (USA), Enkelin Frieda (Israel), Enkel Helmut (Israel), Enkel Johannes (USA), Enkelin Johanna (Israel)

Einbürgerung Enkel Fritz in Australien März 1944

Im Jahr 1881 konnte niemand ahnen, was 60 Jahre später in Deutschland passieren würde. Und doch sehen Historiker direkte Verbindungslinien der Geschehnisse in Pommern bis in die Zeit des Nationalsozialismus72Männchen, Julia: Der Antisemitismus seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, S.18 und bezeichnen sie als Pogrome.73Bernhard Vogt: Antisemitismus und Justiz im Kaiserreich: Der Synagogenbrand in Neustettin, S.399 Immer wieder flammten in den Folgejahren antisemitische Ausschreitungen in Pommern auf – so z.B. 1883 erneut in Neustettin oder 1900 im Zuge der „Konitzer Mordaffäre“ in Stolp und Bütow. Grund genug, an die Geschehnisse in Schivelbein im Sommer 1881 und Heymann Jacobus, der der Gewalt seiner Nachbarn trotzte, zu erinnern.

Literatur

Benz, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus, Berlin 2010

Bergmann, Werner: Tumulte – Excesse – Pogrome, Göttingen 2020, hier insb. S. 500 ff.: Antisemitische Agitation und die Welle antijüdischer Ausschreitungen in Pommern und Westpreußen 1881

Hoffmann, Gerd: Der Prozeß um den Brand der Synagoge in Neustettin, Schifferstadt 1998

Hoffmann, Christhard: Politische Kultur und Gewalt gegen Minderheiten. Die antisemitischen Ausschreitungen in Pommern und Westpreußen 1881, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Hrsg. Wolfgang Benz für das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Frankfurt am Main 1994

Jahr, Christoph: Antisemitismus vor Gericht, Frankfurt am Main 2011

Männchen, Julia: Der Antisemitismus seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Der faschistische Pogrom vom 9./10.November 1938 – Zur Geschichte der Juden in Pommern, S. 18 ff., Hrsg. Wolfgang Wilhelmus, Greifswald 1989

Silbergleit, Heinrich: Die Bevölkerungs- und Berufsverhältnisse der Juden im Deutschen Reich, Berlin 1930

Vogt, Bernhard: Antisemitismus und Justiz im Kaiserreich: Der Synagogenbrand in Neustettin, in: „Halte fern dem ganzen Lande jedes Verderben…“ Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, S. 379 ff., Hrsg. Heitmann, Schoeps, Hildesheim 1995

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  1. Klaus Klitzke

    Ich möchte ihnen Danke sagen für diesen interessanten Teil der Geschichte Schivelbeins

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