Du betrachtest gerade Der Kultusbeamte von Schivelbein

Der Kultusbeamte von Schivelbein

Emma Saul saß am hölzernen Esstisch in der Küche und zog den Wollschal enger um die Schultern. Erst drei Uhr und draußen war es fast dunkel. Und so kalt. Ein weiteres Holzscheit würde sie heute nicht mehr auflegen können, die Monatsmitte war kaum vorbei und hätte Felix ihr bei seinem letzten Besuch in Schivelbein nicht den Keller mit Kartoffeln und Wruken gefüllt, sie wüsste nicht, wie sie über den Winter kommen sollte. 100 Milliarden Mark kostete ein Brot mittlerweile, diese Welt da draußen war verrückt geworden. Vielleicht würde es Hannale trotzdem schaffen, einen Hering, nur einen einzigen, für den Schabbatabend zu ergattern. Wenn sie daran dachte, wie Siegmund dafür gekämpft hatte, endlich 1000 Mark mehr Lohn zu bekommen – heute könnte er davon nicht einmal mehr ein Ei kaufen. So sehr sie ihren Mann vermisste – gut, dass er das nicht mehr erleben musste. Hätte sie die Kinder nicht, sie wäre schon längst nicht mehr aufgewacht, vor Kälte und Hunger. Neulich hatte es wieder geklopft, die Synagogengemeinde hatte jemanden geschickt, um nach ihr zu sehen. Aber mit denen war sie fertig, lieber würde sie erfrieren, als deren Almosen anzunehmen. Du wärest stolz auf Deine Kinder, Siegmund, sie haben es zu etwas gebracht.

Ein Lehrer aus Lobsens

Siegmund Saul wurde am 4. Dezember 1849 in Lobsens in der Provinz Posen als jüngstes von acht Kindern des Kürschners Chaim Saul und dessen Frau Chaya Lewin geboren.1Standesamt Levern, Heiraten 1880/16 Chaim Saul stammte aus dem westpreußischen Schneidemühl, seine Frau Chaya kam aus Czarnikau in der Provinz Posen. Sie war die Tochter von Raphael Lewin, einem Kantor.

In Lobsens lebten um 1850 etwa 2700 Menschen2Wuttke, Heinrich: Städtebuch des Landes Posen, S. 364 und fast jeder dritte Einwohner war jüdischen Glaubens. Es gab eine Synagoge, ein jüdisches Lehrhaus, einen jüdischen Friedhof und sogar der Bürgermeister war ein Jude.3https://www.xn--jdische-gemeinden-22b.de/index.php/gemeinden/k-l/1213-lobsens-posen Aber bleiben wollten viele nicht, die jüdische Bevölkerung von Lobsens nahm stetig ab, es zog die Menschen in die großen Städte, nach Bromberg oder Berlin. So auch die Kinder der Familie Saul, die fast alle ihr Glück in der Hauptstadt suchten.

Der Beruf des Kürschners war für Siegmund Saul keine Option. Stattdessen bot der Lehrerberuf in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine vielversprechende Möglichkeit für gesellschaftlichen Aufstieg.4Freund, Susanne: Jüdische Bildungsgeschichte, S.149 Sein älterer Bruder Hermann hatte diesen Weg bereits eingeschlagen, was Siegmund zusätzlich motivierte, ebenfalls Lehrer zu werden. Der Beruf verlangte jedoch mehr als nur den Wunsch nach Aufstieg: Er erforderte hohen Idealismus und bedeutete harte Arbeit und persönlichen Verzicht.

Die religiöse Erziehung der Kinder hatte in der jüdischen Gesellschaft stets einen hohen Stellenwert.5Brämer, Andreas: Leistung und Gegenleistung, S. 39 Über Jahrhunderte hinweg fand der Unterricht durch die Eltern selber, Privatlehrer oder in nicht-staatlichen einklassigen Zwergschulen statt.6Brämer, Andreas: Leistung und Gegenleistung, S.39 f. Geeignete Pädagogen waren jedoch kaum vorhanden. Die Lehrerqualifikation war an allen Volksschulen Preußens, jüdisch wie christlich, bis ins 19. Jahrhundert ein Trauerspiel. 1729 sah der Auswahlprozess für einen angehenden Lehrer in Pommern wie folgt aus: Ein Schuster, ein Weber, ein Schneider, ein Kesselflicker und ein Invalide mussten drei Kirchenlieder singen, vorlesen, buchstabieren, ein kurzes Diktat schreiben und rechnen. Der Schneider schied gleich aus: „sollte lieber zu Haus geblieben sein, Rechnen ganz unbekannt, er zählte an den Fingern wie ein klein Kind.“ Man entschied sich für den Weber als kleinstes Übel: obwohl er beim Singen „quekte mehrmalen,“ 10 Lesefehler machte, drei Handschriften „schwach und mit Stocken“ las, in drei Reihen Diktat fünf Fehler machte und des Rechnens nicht kundig war.7Sauer, Michael: Volksschullehrerbildung in Preußen, S. 12 f.

In der jüdischen Bildungslandschaft war dies kaum anders, wie aus einem Bericht der Stettiner Regierung von 1820 hervorgeht: „Die Lehrer sind in der Regel rohe und unwissende Menschen, die von den jüdischen Hausvätern für ein geringes Lohn auf unbestimmte Zeit gemiethtet und in Kost genommen werden.“8Bericht der Regierung Stettin an den MGUMA vom November 1820, Behrs, Jörg H.: „— fanden in unserem tristenreichen Pommern treffliche Äcker.“ Zur Situation jüdischer Lehrer und Schülern in Pommern während des 19. Jahrhunderts, S. 318

Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten christlichen Lehrerbildungsanstalten in Preußen. 1854 gab es den Versuch, gesamtstaatliche Standards für die Lehrerbildung zu schaffen und damit auch die Volksschullehrerausbildung zu professionalisieren.9Die drei Preußischen Regulative „Über die Einrichtung des evangelischen Seminar-, Präparanden- und Elementarschulunterrichts“ oder nach ihrem Verfasser kurz „Stihlschen Regulative“. Einen Handlungsbedarf für entsprechende jüdische Anstalten sahen die staatlichen Stellen lange nicht.10Brämer, Andreas: Leistung und Gegenleistung, S. 157 Initiativen jüdischer Pädagogen scheiterten meist an der Finanzierung – während christliche Anstalten zu fast drei Vierteln aus staatlichen Mitteln unterstützt wurden, standen für entsprechende jüdische Institutionen keinerlei Gelder zur Verfügung.11Brämer, Andreas: Leistung und Gegenleistung, S. 158, Behrs, Jörg H.: „— fanden in unserem tristenreichen Pommern treffliche Äcker.“ Zur Situation jüdischer Lehrer und Schülern in Pommern während des 19. Jahrhunderts, S. 319 Juden, die christliche Lehrerbildungsanstalten besuchen wollten, wurden entweder gar nicht erst aufgenommen oder nur als Gasthörer akzeptiert.12Brämer, Andreas: Leistung und Gegenleistung, S. 161 Selbst wenn sie teilnehmen durften, qualifizierten sie sich durch die die evangelischen oder katholischen Inhalte der Ausbildung nicht für den späteren Dienst an ihren Schulen.13Brämer, Andreas: Leistung und Gegenleistung, S. 163 f. Die jüdischen Gemeinden waren sich einig – es bestand dringender Handlungsbedarf.

Die jüdische Lehrerbildungsanstalt in Berlin14Holzman, Michael: Geschichte der Jüdischen Lehrer-Bildungsanstalt-Anstalt in Berlin, S. 95

Am 6. November 1859 öffnete in Berlin in den Räumlichkeiten der jüdischen Knabenschule eine „Jüdische Lehrerbildungsanstalt“ ihre Pforten.15Holzman, Michael: Geschichte der Jüdischen Lehrer-Bildungsanstalt in Berlin, S. 91 1867 begann Siegmund Saul hier seine Lehrerausbildung.16Holzman, Michael: Geschichte der Jüdischen Lehrer-Bildungsanstalt in Berlin, S. 166 Lange, prall gefüllte Arbeitstage. Unterricht in Religionswissenschaften, Schulkunde, Deutsch, Geschichte, Geographie, Naturkunde, Rechnen, Raumlehre, Schreiben, Zeichnen, Musik und Turnen,17Holzman, Michael: Geschichte der Jüdischen Lehrer-Bildungsanstalt in Berlin, Lehrplan S. 85 f. dazu Vertretungsunterricht in der Knabenschule, Pausenaufsichten, Mithilfe im Turnunterricht, organisatorische Arbeiten, insgesamt mindestens 56 Stunden pro Woche. An jüdische Lehrer wurden höhere Anforderungen gestellt als an ihre nicht-jüdischen Kollegen. Von ihnen wurde nicht nur der Unterricht der Kinder erwartet, sondern auch die Wahrnehmung religiöser und seelsorgerischer Aufgaben.18Freund, Susanne: Jüdische Bildungsgeschichte, S. 152 Die Vorbereitung auf die künftigen theologische Pflichten, als Prediger und Kantor, trat hinter dem pädagogischen Pensum zurück.19Brämer, Andreas: Leistung und Gegenleistung, S. 236 ff.

1871 schloss Siegmund Saul seine Ausbildung in Berlin ab. Vermutlich führte ihn seine erste Anstellung als Lehrer ins westfälische Levern und anschließend an den Niederrhein nach Dinslaken.20Siegmund Sauls Frau Emma stammte aus Levern, in einer Stellenanzeige aus der Allgemeinen Zeitung des Judenthums vom 15.08.1876 empfiehlt der Lehrer Saul aus Dinslaken die Lehrerstelle in Levern Gesichert ist, dass er 1881 in den Kreis Posen zurückkehrte. Aber er war nicht mehr allein – in Levern hatte er Emma Horwitz kennengelernt, die er dort am 28. Juli 1880 heiratete.21Standesamt Levern, Heiraten 1880/16 Am 3. August 1881 kam Tochter Ernestine in Kosten, Kreis Posen zur Welt.22Standesamt Kosten, Geburten 1881/89 Mit der Familiengründung war die Zeit gekommen, sich an einem Ort dauerhaft niederzulassen. Diese Möglichkeit bot sich in Preußisch Stargard, 50km südlich von Danzig. 13 Jahre lang war Siegmund Saul dort als Lehrer und Kantor für die jüdische Gemeinde tätig. Emma Saul brachte hier acht weitere Kinder zur Welt, von denen eines, der kleine Richard, seinen ersten Geburtstag nicht erlebte. Doch auch Preußisch Stargard sollte nicht die endgültige Heimat der Familie werden. Am 16. Juni 1893 meldete die Zeitung Jescherun, dass Siegmund Saul der neue Lehrer und Kantor der jüdischen Gemeinde von Schivelbein geworden war.23Jeschurun – Zeitschrift für die religiösen und sozialen Interessen des Judentums, Nr. 24 vom 16. Juni 1893, S. 382

Die Schivelbeiner Jahre

Dreißig Jahre hatte Rabbiner Hirsch Rackwitz die jüdische Gemeinde Schivelbein angeführt, bis er am 4. Juni 1893 starb.24Standesamt Berlin 9, Tote 1893/967 Lange Zeit war er schwer erkrankt, so sehr, dass dem Synagogenvorstand bereits früh klar war, dass ihr Rabbiner nicht mehr aus dem jüdischen Krankenhaus in Berlin nach Schivelbein zurückkehren würde. Zunächst sollte Siegmund Saul den Rabbiner nur vertreten, doch er erfüllte diese Aufgabe so gut, dass man beschloss, künftig einen Lehrer und Kantor anzustellen. Wahrscheinlich spielten dabei auch finanzielle Aspekte eine Rolle. Die Schivelbeiner Gemeinde war seit Jahren geschrumpft: die Nähe zu Berlin, die Nachwehen der Schivelbeiner Krawalle25https://ahnenblog.globonauten.de/heymann-jacobus-und-die-krawalle-von-schivelbein/ und eine immer kleiner werdende Zahl finanzkräftiger Gemeindemitglieder führten dazu, dass die Entlastung der Gemeindekasse durch die Einstellung eines schlechter bezahlten Lehrers und Kantors naheliegend erschien.

Das Amt, das Siegmund Saul übernahm, trug den Titel Kultusbeamter. Die Aufgaben eines Kultusbeamten umfassten sämtliche religiöse Handlungen in einer jüdischen Gemeinde, darunter die Aufgaben eines Religionslehrers, eines Vorbeters und häufig auch die des Schächters, also des rituellen Schlachters. Einen Einblick in die weitreichenden Zuständigkeiten bietet die „Universal-Agende für jüdische Kultusbeamte“.26s. Wolff, Lion: Universal-Agende für jüdische Kultusbeamte Neben Gottesdiensten am Schabbat und den Feiertagen war der Kultusbeamte auch in nahezu allen anderen Lebensbereichen tätig: bei Grundsteinlegungen, Einweihungen, Verlobungen, Geburten, Hochzeiten und Totenfeiern, bei Beschneidungen und Konfirmationen und sogar bei patriotischen Feiern – die Dienste von Siegmund Saul waren überall gefragt.

Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in ganz Pommern 61 solcher Kultusbeamten.27Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 1. Jg. Nr. 9 September 1905, S. 2 Anders als der Titel vermuten lässt, waren sie aber gerade keine Beamten – sie waren weder auf Dauer beschäftigt noch amtsangemessen bezahlt oder durch eine Alterspension abgesichert. Die Tätigkeit für die Gemeinde sicherte ihnen allenfalls ein karges Grundeinkommen, das sie durch Privatunterricht und Schlachtgebühren aufbessern konnten. Die fundierte Ausbildung im Lehrerbildungsseminar änderte wenig an ihrer finanziellen Lage. So war ein „jüdisches akademisches Proletariat“28Fehrs, Jörg H.: „…fanden in unserem tristenreichen Pommern treffliche Äcker.“, S. 335 entstanden: gebildet, aber arm. Den Synagogengemeinden war dabei kaum ein Vorwurf zu machen – anders als bei staatlichen Schulen mussten sie ihre Lehrer selber finanzieren.

Siegmund Saul setzte auf das Zusatzeinkommen als Privatlehrer. Zwar bot ihm die Gemeinde auch das Amt des Schochet, des rituellen Schächters, an, aber Siegmund Saul war hierfür nicht ausgebildet und vielleicht wollte er die blutige Aufgabe auch gar nicht übernehmen.29Leserbrief der Synagogengemeinde Schivelbein in: Blätter für Erziehung und Unterricht in Israelitisches Familienblatt 24. Jg. Nr. 49 vom 07.12.1922, S. 9 Stattdessen stürzte er sich mit Feuereifer in die Unterrichtung der jungen Menschen der Gemeinde. 40 Kinder besuchten seinen Unterricht.30Statistisches Jahrbuch des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes 1894, S. 12 Nach dem Besuch der allgemeinbildenden Schule kamen sie ein paar Stunden in der Woche in die jüdische Schule, wo sie von Siegmund Saul in Hebräisch, jüdischer Religion und Kultur unterrichtet wurden.

Emma und Siegmund Saul,
mit bestem Dank an Marit Kihlman

Siegmund Saul war ein Vollblutlehrer, dem neben der Unterrichtstätigkeit auch die Verbesserung der Situation der Lehrer am Herz lag. Im 19. Jahrhundert hatten sich jüdische Lehrer in den verschiedenen preußischen Provinzen in Vereinen zusammengeschlossen. 1891 entstand der „Bezirksverein der Lehrer und Cultusbeamten Cöslin“, dessen Ziel es war, „die soziale Stellung zu heben und die Zukunft der Kultusbeamten sicherzustellen“.31Blätter für Erziehung und Unterricht 32. Jg., Nr. 40 vom 24.12.1930 in Jüdische Bibliothek Nr. 271, S. 2167 Im Dezember 1896 wurde dieser Bezirksverein in den „Verein israelitischer Lehrer und Kantoren in Pommern“ umbenannt.32Jeschurun Nr. 18 vom 18.12.1896, S. 82 1901 wurde Siegmund Saul in Schlawe zum Vorsitzenden des Vereins gewählt.33Blätter für Erziehung und Unterricht 32. Jg., Nr. 40 vom 24.12.1930 in Jüdische Bibliothek Nr. 271, S. 2168Der Verein blüht auf“, beschrieb ein Chronist das Wirken von Siegmund Saul. In Adolf Baronowitz, dem resoluten Erziehungsdirektor im nahegelegenen Repzin,34https://ahnenblog.globonauten.de/das-israelitische-erziehungsheim-in-repzin-und-die-familie-baronowitz/ fand er einen Verbündeten im Kampf für die Verbesserung der Situation der Kultusbeamten. Denn Siegmund Saul wusste, dass sie nur gemeinsam stark sein würden: „Wenn unsere Gemeinden sehen werden, daß wir nicht nur durch treue Arbeit, sondern auch durch stetes Zusammenhalten ein Faktor werden, mit dem sie rechnen müssen, dann werden wir dahin kommen, daß unsere soziale Stellung in unsern Wirkungskreisen eine bessere und würdigere werden wird.“35Blätter für Erziehung und Unterricht 32. Jg., Nr. 40 vom 24.12.1930 in Jüdische Bibliothek Nr. 271, S. 2168

Dann brach der Erste Weltkrieg aus. Fünf Söhne von Emma und Siegmund Saul zogen für Deutschland in die Schlacht, aber nur drei kehrten zurück. Die beiden jüngsten, Walter und Julius, fielen auf den Schlachtfeldern im Osten und in Frankreich.36Tod Walter Saul: Standesamt Berlin-Tempelhof, Tote 1916/328, Tod Julius Saul: Standesamt Polzin, Tote 1918/174 Zwei Söhne, Sally und Georg, blieben bis 1920 in Gefangenschaft in Nordfrankreich. Und die dem Krieg folgende Wirtschaftskrise machte es der Familie Saul noch schwerer – das geringe Salär von Siegmund Saul reichte nun vorne und hinten nicht mehr.

Siegmund Saul war mittlerweile über 70 Jahre alt. In den Ruhestand zu gehen war für Kultusbeamte nicht vorgesehen. Hörten sie auf zu arbeiten, erhielten sie auch keine Bezüge mehr. Siegmund Saul war jetzt seit 50 Jahren berufstätig, davon 30 Jahre im Dienst der Synagogengemeinde Schivelbein. Das Geld, das er am Ende des Monats erhielt, entsprach dem Wochenverdienst eines Bäckergesellen.37Blätter für Erziehung und Unterricht in: Israelitisches Familienblatt 24. Jg. Nr. 47 vom 23.11.1922, S. 9 Ohne die Unterstützung ihrer Kinder hätten Emma und Siegmund Saul nicht überleben können, trotz aller Mühe. Aber die anstrengenden Festtagsgottesdienste waren einfach zu viel für den gealterten Kultusbeamten. 1922 bat er die Gemeinde um eine Gehaltserhöhung – jedoch nicht für sich selbst. Er war bereit, auf ein Drittel seiner Bezüge zu verzichten, wenn man einen Helfer anstellen würde, der ihm zumindest einen Teil der Gottesdienste abnähme.38Blätter für Erziehung und Unterricht in: Israelitisches Familienblatt 24. Jg. Nr. 47 vom 23.11.1922, S. 9 Doch die Gemeinde lehnte ab. Zehn Monate später starb Siegmund Saul.39Standesamt Schivelbein, Tote 1922/144

Todesanzeigen der Familie40Berliner Tageblatt Morgen-Ausgabe, 51. Jg. Nr. 491 vom 29.10.1922, S. 10 und der Synagogengemeinde41Central-Vereins-Zeitung 1. Jg. Nr. 27 vom 09.11.1922 S. 319

„Hinter den Coulissen – Ein neues Opfer des Beamtenelends“ lautete die Überschrift eines Artikels in den Blättern für Erziehung und Unterricht, der die Synagogengemeinde anklagte.42Blätter für Erziehung und Unterricht in: Israelitisches Familienblatt 24. Jg. Nr. 47 vom 23.11.1922, S. 9 Geld sei vorhanden gewesen, um den Kultusbeamten besser zu bezahlen, nur aus Geiz habe man dies unterlassen und in Anwesenheit der Witwe sogar geklagt, dass ein so günstiger Beamter künftig nicht mehr zu finden sei. Empört veröffentlichte der Synagogenvorstand eine Gegendarstellung. Hätte Siegmund Saul die Aufgaben des Schächters übernommen, hätte er auch mehr verdient. Die Zeitung blieb dabei – „Der Vorstand hat dem verdienstvollen greisen Kultusbeamten gegenüber schweres Unrecht begangen; seine Haltung ist durch keinerlei Ausflüchte und Beschönigungsversuche zu rechtfertigen.“43Blätter für Erziehung und Unterricht in Israelitisches Familienblatt 24. Jg. Nr. 49 vom 07.12.1922, S. 9

Nachruf von Adolf Baronowitz für Siegmund Saul44Blätter für Erziehung und Unterricht in Israelitisches Familienblatt 24. Jg. Nr. 46 vom 16.11.1922, S. 9

Für Emma Saul wurde es jetzt noch schwerer. Zwar kümmerte sich ihre Tochter Johanna in Schivelbein um sie, doch die Inflation schritt weiter voran, und sie erhielt nur einen kleinen Teil des Einkommens ihres Mannes als Witwenpension. Ihre Kinder, die sie bisher nach Kräften finanziell unterstützt hatten, litten nun ebenfalls unter der katastrophalen Wirtschaftslage. Im Frühjahr 1923 floss von der Gemeinde überhaupt kein Geld mehr. Nun reichte es ihrem Sohn Felix Saul, der in Schweden lebte. Bekannt kämpferisch und mit besten Kontakten nach Schivelbein und zu den jüdischen Zeitungen in Deutschland, nahm er die Sache in die Hand. In Adolf Baronowitz, der bereits mit seinem Vater für eine bessere Lehrerbezahlung gekämpft hatte, fand er einen Verbündeten. Beide versuchten, den Synagogenvorstand umzustimmen, aber auf entsprechende Briefe erhielt Felix Saul nicht einmal eine Antwort. Also beschloss er, die Angelegenheit öffentlich zu machen. Er wandte sich an die Zeitung und bat die Öffentlichkeit, Schiedsrichter zu sein.45Israelitisches Familienblatt 26. Jg. Nr. 44 vom 30.10.1924, S. 15 Ob er damit Erfolg hatte, ließ sich nicht ermitteln.

Emma Saul, geb. Horwitz starb am 30. November 1927 bei ihrer Tochter Eugenie in Berlin.46Standesamt Tempelhof, Tote 1927/230 Ihr Grab befindet sich bis heute auf dem jüdischen Friedhof in Schivelbein.

Todesanzeige Emma Saul,47Berliner Tageblatt 56. Jg. Nr. 569 vom 02.12.1927, S. 10 Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Schivelbein/Świdwin, mit bestem Dank an Beata Zbonikowska

Die Kinder

Trotz aller finanziellen Schwierigkeiten – alle Kinder der Sauls hatten den gesellschaftlichen Aufstieg geschafft. Bis die Nationalsozialisten dem ein Ende setzten.

Stammbaum der Familie Saul

Eigene Graphik

Eugenie

Die älteste Tochter Eugenie heiratete 1908 Siegfried Bernstein.48Standesamt Schivelbein, Heiraten 1908/032 Der gebürtige Schivelbeiner war als erfolgreicher Architekt in Berlin tätig, wo er ein eigenes „Büro für Architektur und Bauausführung“ in Tempelhof betrieb.49Warhaftig, Myra: Deutsche jüdische Architekten vor und nach 1933, S. 67 f Bekannt wurde er durch die Gestaltung zweier bedeutender Gebäude im brandenburgischen Bad Saarow – des Bahnhofs und des Moorbades, die er gemeinsam mit dem nicht-jüdischen Architekten Emil Kopp entwarf.

Der Bahnhof von Bad Saarow, erbaut von Siegfried Bernstein und Emil Kopp, von A.Savin – Eigenes Werk, FAL, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=130205507

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten endete die Karriere von Siegfried Bernstein rasch. Sein Antrag auf Mitgliedschaft in der Reichskammer der bildenden Künste wurde abgelehnt, was einem Berufsverbot gleichkam. Der ältesten Tochter, Renate Bernstein, gelang die Ausreise nach England. Verzweifelt versuchte die Familie, die zehnjährige Gisela zu Verwandten nach Schweden zu schicken, aber das schwedische Einwanderungskontingent war erschöpft50Auskunft der Familie von Felix Saul – Gisela musste in Berlin bleiben.

Die Ausraubung der Familie Bernstein ist in Vermögenserklärungen aus dem Dezember 1942 dokumentiert.51Brandenburgisches Landeshauptarchiv 36A (II) 2995 Der einst erfolgreiche Architekt, seine Frau Eugenie und Gisela lebten zusammen mit drei jüdischen Untermietern in einer Wohnung. Vermögen war keines mehr vorhanden, die Einrichtung beschränkte sich auf das Nötigste. Die 19-jährige Gisela wurde von den Nationalsozialisten gezwungen, als Gewindeschneiderin in den Goerz-Werken von Zeiss-Ikon in Zehlendorf zu arbeiten. Sie brachte wöchentlich 25 Mark nach Hause. Am 12. Januar 1943 wurden Eugenie, Siegfried und Gisela Bernstein nach Auschwitz deportiert. Wie lange sie dort überlebten, ist nicht bekannt.52https://collections.arolsen-archives.org/de/document/127212106

Nach 1945 tat der frühere Kollege von Siegfried Bernstein, Emil Kopp, alles dafür, den Namen seines jüdischen Kollegen als Miturheber der Gebäudepläne zu tilgen.53Warhaftig, Myra: Deutsche jüdische Architekten vor und nach 1933, S. 67 f. Heute wird Siegfried Bernstein wieder als Architekt der Gebäude in Bad Saarow genannt.

Sally

Sally Saul war bereits viele Jahre als Kaufmann im Getreidehandel in Dresden tätig54Bestellung zum Prokurist der Firma Samuel Rosenthal, Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, Zentralhandeslregister für das Deutsche Reich, Nr. 78 A vom 01.04.1914 als der Erste Weltkrieg ausbrach. Wie viele andere jüdische Männer zog auch er für Deutschland an die Front. Am 23. Februar 1915 geriet er in französische Kriegsgefangenschaft,55Deutsche Verlustliste, 395. Ausgabe, Preußische Verlustliste Nr. 170 vom 10.03.1915, S. 117 die mehr als vier Jahre dauern sollte. Im September 1919 war die Situation für ihn unerträglich geworden, der Krieg war jetzt fast ein Jahr vorbei und noch immer gab es keine Aussicht auf Freiheit. Gemeinsam mit seinem Bruder Georg, der im selben Lager in Nordfrankreich inhaftiert war, plante er die Flucht. Georg kam durch, doch Sally wurde gefasst und in Arrest genommen. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, es schnellstmöglich erneut zu versuchen. Diesmal war auch er erfolgreich. Drei Tage schlug er sich durch den Norden Frankreichs, bis er das rettende rechte Rheinufer erreichte.56Der Gemeindebote 84. Jg. Nr. 5 vom 30.01.1920, S. 3

Endlich zurück in Dresden, verschaffte ihm der Inhaber des Getreidehandels Rosenthal eine Arbeitsstelle als Prokurist. Nun war es an der Zeit, endlich eine Familie zu gründen. Am 18. Dezember 1920 heiratete Sally Saul in Dresden Elsa Margarethe Schneider, genannt Gretel.57Standesamt Dresden I, Heiraten 1920/1822 Es schien, als könne jetzt eine glückliche Zukunft beginnen. Da traf es ihn wie einen Donnerschlag als kurz nach der Hochzeit Polizisten erschienen und ihn festnahmen. Der Firma, für die er erst seit vier Monaten tätig war, wurden Wucher und Kettenhandel vorgeworfen. Über ein halbes Jahr verbrachte Sally – gerade erst einer jahrelangen Inhaftierung entkommen – im Gefängnis. Es dauerte zweieinhalb Jahre, bis der Fall vor Gericht kam. In einem aufsehenerregenden Prozess, über den die Zeitungen ausführlich berichteten, beteuerten die Angeklagten, allesamt respektable Dresdener Bürger, ihre Unschuld.58Leipziger Tageblatt 117. Jg. Nr. 100 vom 28.04.1923, S.4 Die Staatsanwaltschaft schien sich vollkommen verrannt zu haben und die Vorwürfe fielen in sich zusammen. Sally, mittlerweile 40 Jahre alt, wurde freigesprochen.59Berliner Tageblatt 52. Jg. Nr. 205 vom 03.05.1923

Er setzte seine Tätigkeit als Getreidekaufmann fort, bis die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Sally Saul muss geahnt haben, dass ihm nur eine erneute Flucht das Leben retten würde. Über Dänemark gelang es ihm, mit seiner Frau Gretel nach Schweden zu fliehen, wo sein Bruder Felix lebte. Sally Saul starb 1947 63-jährig in Stockholm.60Sterberegister Stockholm, Brännkyrka 1947 2012 wurden in Dresden Stolpersteine für Sally und Gretel Saul verlegt.61https://stolpersteine-guide.de/map/biografie/1208/familie-saul

Grab von Sally und Gretel Saul
Norra Begravningsplatsen, Stockholm

Felix

Felix Saul folgte zunächst dem Berufsweg seines Vaters. Von 1899 bis 1904 studierte er am jüdischen Lehrerseminar der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster und war anschließend fünf Jahre lang als Kantor und Chordirektor der Synagoge Düsseldorf tätig.62https://de.wikipedia.org/wiki/Felix_Saul Felix Saul hatte ein besonderes musikalisches Talent. Er besaß ein absolutes Gehör und seine Bettlektüre bestand häufig aus Partituren.63Andersson, Anna Kerstin: Musikpedagogen Felix Saul, S. 3

In Düsseldorf lernte er seine spätere Frau Margareta „Grete“ Cohn kennen. Gemeinsam wagten sie 1909 einen großen Schritt: Felix hatte das Angebot bekommen, Oberkantor der jüdischen Gemeinde in Stockholm zu werden. Und er nahm es an. Unermüdlich stürzte er sich in die Arbeit – als Musikpädagoge, Chorleiter, Musiklehrer, Vortragsredner, Herausgeber und Redakteur, Autor und nicht zuletzt Vater von vier Kindern. Der Tag von Felix Saul schien 25 Stunden zu haben. „Wie er das alles geschafft hat, ist ein Rätsel.“, hieß es in seinem Nachruf.64Andersson, Anna Kerstin: Musikpedagogen Felix Saul, S. 13

Felix Saul wurde zu einer bekannten Persönlichkeit der Stockholmer Musikszene, hielt jedoch auch seiner Heimat die Treue. Er positionierte sich in zahlreichen Artikeln und Leserbriefen klar und kämpferisch – nicht nur zu musikalischen sondern auch zu politischen Themen. 1932 überwarf er sich mit der Synagogengemeinde und musste seine Position als Oberkantor aufgeben. Trotz seines langen Kampfes gegen diese Entlassung sollte er erst nach seinem Tod rehabilitiert werden.65Auskunft der Familie Dennoch machte er das Beste daraus und widmete sich fortan ganz seinem privaten Konservatorium.

Felix Saul gehört zu den Leuten, die andere gerne vor den Kopf stoßen. Was er davon hat ist, dass die Zahl seiner Anhänger allmählich wächst.“, bemerkte ein Kommentator.66Andersson, Anna Kerstin: Musikpedagogen Felix Saul, S. 12 f. Kein Wunder also, dass gerade er die aus seiner Sicht ungerechte Bezahlung seines Vaters und die schlechte Versorgung seiner Mutter anprangerte. Doch dieses unermüdliche Engagement forderte seinen Preis – Felix Saul ließ sich auch von Herzproblemen nicht bremsen und starb im November 1942 im Alter von nur 58 Jahren in Stockholm.67Schweden, indizierte Sterberegister Stockholm, 1942 Trotz aller Kampfeslust stellte sein Nachruf fest: „Du hast Felix Saul nie verlassen, ohne etwas mitgenommen zu haben.“68Andersson, Anna Kerstin: Musikpedagogen Felix Saul, S. 13

Felix Saul, mit bestem Dank an Marit Kihlman

Johanna

Johanna Saul verließ Schivelbein erst nach dem Tod ihrer Mutter Emma. Als sie 1927 den Kösliner Viehhändler Adolf Itzig heiratete, war sie bereits 42 Jahre alt.69Standesamt Schivelbein Heiraten 53/1927 Gemeinsam mit ihrem Mann emigrierte sie später nach Buenos Aires, Argentinien. Johanna Itzig, geborene Saul, starb dort am 22. September 1968. Sie ist auf dem jüdischen Friedhof Cementerio Israelita de La Tablada in Buenos Aires beerdigt.70JewishGen Online Worldwide Burial Registry – Argentina

Georg

Wie sein Bruder Sally wurde auch Georg Saul durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs aus seinem bisherigen Leben gerissen. Georg war als Textilkaufmann in Berlin tätig und hatte 1911 Martha Pfarr geheiratet, die zum Judentum übergetreten war.71Standesamt Berlin VIII, Heiraten 1911/1297

Berliner Tageblatt, 41. Jg. Nr. 50 vom 28.01.1912, S. 14

Doch dann musste Georg Saul an die Front. 1916 wurde ihm das Eiserne Kreuz verliehen.72Israelitisches Familienblatt 18. Jg. Nr. 26 vom 29.06.1916, S. 4 Einen Monat später wurde er als vermisst gemeldet. Die Erleichterung war groß, als kurz darauf die Nachricht eintraf: Georg lebt, aber er ist in Gefangenschaft geraten. Nach dem Krieg wurde er weiter in Frankreich festgehalten, bis er 192o gemeinsam mit seinem Bruder Sally aus dem Lager flüchtete.73Der Gemeindebote 84. Jg. Nr. 5 vom 30.01.1920, S. 3 Endlich zurück in Berlin stieg er wieder in den Textilhandel ein und brachte es bis zum Prokuristen der „Aktien-Gesellschaft für Wäschefabrikation“.74Julius Mossner: Adreßbuch der Direktoren und Aufsichtsräte, Band I, Berlin 1936, S. 457 Bis 1936 war er in dem jüdischen Unternehmen tätig, dann setzte die Arisierung der Firma seiner Karriere ein Ende. 1941 starb seine Frau Martha, die offizielle Todesursache lautete Krebs. Fünf Monate später wurde Georg Saul nach Lodz, in das Ghetto Litzmannstadt deportiert.75Unterlagen der Arolsen Archives Zwangsarbeit, Hunger, Kälte und Tuberkulose – die Lebensbedingungen im Ghetto waren unmenschlich. In der Hölle fand Georg Saul nochmals die Liebe – er heiratete die 20 Jahre jüngere Gita Schreiber, wann genau, ist nicht bekannt.76JewishGen: Last Letters from the Lodz Ghetto, Brief vom 01.05.1942 Im Mai 1942 wurden Georg und Gita in das Vernichtungslager Kulmhof deportiert. Georg Saul wurde dort am 9. Mai 1942 ermordet, seine Frau Gita einen Tag später.77Gedenkbuch Bundesarchiv

Friedrich

Weder Lehrer noch Kaufmann wie seine Brüder – Friedrich Saul hatte andere Berufspläne. Er schlug die Beamtenlaufbahn bei der Schivelbeiner Post ein. Aber auch ihn erfassten die Ereignisse des Ersten Weltkriegs. 1915 wurde er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.78Berliner Tageblatt, 44. Jg. Nr. 314 vom 22.06.1915, S. 6 Erst nach Kriegsende, Anfang der Zwanzigerjahre, als er bereits Mitte 30 war, konnte er an die Familiengründung denken. Friedrich ging dabei auf Nummer sicher – erst trat er dem Beamtenwohnungsverein in Münster/Westfalen bei, dann heiratete er seine Cousine Hedwig aus Levern. Das Paar bekam zwei Töchter, Ingeborg und Ruth, und führte ein ganz normales Leben in Münster. „Die Familie war sehr korrekt und freundlich. Ingeborg wurde Inge genannt. Sie war etwas jünger als ich und zurückhaltend.“, erinnerte sich eine Nachbarin.79https://muenstertube.wordpress.com/2023/07/05/stolpersteine-gegen-das-vergessen-gedenken-in-munster-an-die-opfer-des-nationalsozialismus-friedrich-saul/ Doch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten veränderte sich ihr Leben grundlegend. Friedrich Saul konnte zunächst noch Beamter bleiben – da ihm das „Frontkämpferprivileg“ einen Aufschub bis Ende 1935 verschaffte. „Den Vater habe ich noch in besonders guter Erinnerung. Er ging oft auf der Straße auf und ab mit seinem schwarzen Hut. Er war immer freundlich zu uns Kindern und grüßte jeden, der ihm entgegenkam, obschon nicht alle zurückgrüßten. Da er mehrmals am Tag spazieren ging, glaube ich, dass er damals keine Arbeit hatte.“, erinnert sich eine andere Nachbarin.80https://muenstertube.wordpress.com/2023/07/05/stolpersteine-gegen-das-vergessen-gedenken-in-munster-an-die-opfer-des-nationalsozialismus-friedrich-saul/ Doch die gesellschaftliche Ausgrenzung nahm zu: Inge verließ das Gymnasium und bei den Spielen auf der Straße waren beide Töchter nicht mehr dabei. Anfang 1938 zog die Familie weg aus Münster. Nach einigen Wochen bei Verwandten reisten sie weiter nach Berlin und bezogen eine Wohnung in Grunewald, die sie bis zuletzt alleine bewohnen konnten. Eine gute Nachbarschaft, Ärzte, Regierungsräte, eine Beamtenwohnanlage. Friedrich und Tochter Inge mussten hart arbeiten, um der Familie diese letzte kleine Sicherheit bieten zu können. Sie hatten aber auch keine Wahl – sie waren Zwangsarbeiter geworden. Beide arbeiteten bei der Ferdinand Schuchardt Berliner Fernsprech- und Telegraphen AG. 38 Reichsmark brutto wöchentlich für Friedrich, 17,32 für Inge.81Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam, Signatur 36A (II) 33311

1942 war klar, dass ihr bisheriges Leben, das beschwerlich genug war, ein Ende haben würde. Am 18. März 1942 mussten sie eine Vermögenserklärung abgeben, in Vorbereitung auf die „Auswanderung“. Korrekter Beamter durch und durch gab Friedrich jede Mark, jedes Möbelstück akribisch an.82Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam, Signatur 36A (II) 33311 Hedwig und er hatten es sogar geschafft, in den Zeiten der großen Not geringe Rücklagen zu bilden. Doch bis auf den letzen Pfennig zog der Staat alles ein. Am 28. März 1942 wurde die Familie Saul von Berlin aus in das Lager Trawniki, etwa 40 km südöstlich von Lublin, deportiert und zu einem unbekannten Zeitpunkt ermordet.83Unterlagen der Arolsen Archives

In Münster wurden Stolpersteine für die Familie verlegt.84https://stolpersteine.wdr.de/web/de/stolperstein/16094 Auch der Wohnungsverein Münster, in dem Friedrich Mitglied war, hat die Geschichte und das Schicksal der Familie recherchiert. 85Mitteilungsblatt „Aktuell“ des Wohnungsverein Münster, Juni 2006, S. 2f.

Von GeorgDerReisende – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=148151076

Rosa

Als sich Rosa Saul im Dezember 1913 mit Leo Lesser, dem Sohn eines Berliner Glasermeisters, verlobte, schien sie die Kleinstadt Schivelbein hinter sich gelassen zu haben, um in ein spannendes Großstadtleben zu starten.

Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung Morgen-Ausgabe, 42. Jg. Nr. 654 vom 25.12.1913, S. 15

Doch nur wenige Monate später brach der Erste Weltkrieg aus und Leo zog in die Schlacht. Er kehrte nicht mehr zurück. Am 17. August 1917 fiel er in der dritten Flandernschlacht in Nordfrankreich.86Standesamt Berlin VIII, Tote 1918/377 Rosa zog zurück nach Schivelbein und heiratete dort am 8. Mai 1921 den Kaufmann Siegfried Chraplewsky aus Belgard,87Standesamt Schivelbein, Heiraten 1921/26 der in Berlin ein Krawattengeschäft unter dem Namen Krawatten-Chrap88Erste Zentralhandelsregisterbeilage zum Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger Nr. 78 vom 02.04.1931 S. 15 führte. Rosa und Siegfried bekamen zwei Töchter, Ruth und Hella-Senta. Rosa war stolz auf ihre Töchter, so stolz, dass sie mit einem Photo von Hella-Senta am Wettbewerb „Das schöne jüdische Kind“ teilnahm und eine vergoldete Taschenuhr gewann.89Israelitisches Familienblatt 32. Jg. Nr. 50 vom 11.12.1930, S. 14 Das war 1930 und nur wenige Jahre später geriet das Leben der Familie aus den Fugen. All die Schikanen, die Juden ab 1933 ertragen mussten, trafen auch die Familie Chraplewsky. 1938 entschieden sie sich, die 16jährige Ruth nach Australien zu schicken, um wenigstens sie in Sicherheit zu bringen.90The Telegraph, Brisbane, 23.05.1944, S. 6: Ruth Chraplewsky, of German (refugee Jew) nationality, born at Berlin & resident 6 years in Australia (…) 1942 starb Siegfried Chraplewsky im Alter von 50 Jahren an einem Herzschlag.91Standesamt Berlin-Mitte, Tote 1942/3659 Hella-Senta musste Zwangsarbeit leisten, bei DeTeWe Deutsche Telefonwerke und Kabelindustrie, für 18 Reichsmark in der Woche.92Vermögenserklärung Chraplewsky, Rosa, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam, 36A (II) 5818, S. 26 Im Januar 1943 wurden Rosa und Hella-Senta nach Auschwitz deportiert.93Transportliste Welle 40, 26. Osttransport 12.01.1943 Der genaue Zeitpunkt ihres Todes ist unbekannt.

Nach dem Krieg wandte sich Ruth Chraplewsky, die mittlerweile in Brisbane lebte, an das Internationale Rote Kreuz, in der Hoffnung, dass ihre Mutter und ihre Schwester überlebt hatten.94Such- und Bescheinigungsvorgang Nr. 95.579, Signatur 06030302.0.095.579 von Arolsen Archives Als die verheerende Antwort 1948 in Australien eintraf, war Ruth bereits seit zwei Jahren tot. Ruth Chraplewsky starb am 5. Dezember 1946 im Alter von nur 24 Jahren in Brisbane.95Brisbane Hospital deaths 1933-1963, Queensland State Archives, Item ID ITM298297

Grab von Ruth Chraplewsky, Toowong Cemetry, Brisbane

Die Nachfahren der Familie Saul leben heute in Schweden und Israel. Ich hoffe, ich konnte ihren Vorfahren mit dieser Darstellung gerecht werden. Mein herzlicher Dank gilt der Familie von Felix Saul in Schweden, insbesondere Anna Kerstin Anderson und Marit Kihlman für ihre wertvolle Unterstützung und die wunderbaren Photos. Ein besonderer Dank geht an Hans Peter Lindemann, der mich erst auf die Idee brachte, in Schweden zu recherchieren.

Literatur

Andersson, Anna Kerstin: Musikpedagogen Felix Saul, Masterarbeit Königliche Musikhochschule Stockholm, Stockholm 2015

Fehrs, Jörg H.: „— fanden in unserem tristenreichen Pommern treffliche Äcker.“ Zur Situation jüdischer Lehrer und Schülern in Pommern während des 19. Jahrhunderts in: „Halte fern dem ganzen Lande jedes Verderben…“, Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, S. 315 ff., Hrsg. Heitmann, Schoeps, Hildesheim 1995

Brämer, Andreas: Leistung und Gegenleistung, Zur Geschichte jüdischer Religions- und Elementarlehrer in Preußen 1823/24 bis 1872, Göttingen 2006

Büro des deutsch-israelitischen Gemeindebundes: Statistisches Jahrbuch 1894, Berlin 1894

Freund, Susanne: Jüdische Bildungsgeschichte zwischen Emanzipation und Ausgrenzung, Paderborn 1997

Holzman, Michael: Geschichte der Jüdischen Lehrer-Bildungsanstalt-Anstalt in Berlin, Berlin 1909

Sauer, Michael: Volksschullehrerbildung in Preußen, Frankfurt am Main 1987

Warhaftig, Myra: Deutsche jüdische Architekten vor und nach 1933 – Das Lexikon, Berlin 2005

Wilhelmus, Wolfgang: Geschichte der Juden in Pommern

Wolff, Lion: Universal-Agende für jüdische Kultusbeamte, Berlin 1891

Wuttke, Heinrich: Städtebuch des Landes Posen, Leipzig 1864

Schreibe einen Kommentar