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Das verschwundene Dorf

Im Gasthaus von Wuitz drängten sich am 9. April 1952 die Männer und Frauen, die rechtzeitig einen Platz im Saal hatten erhaschen können. Längst nicht alle der knapp 650 Einwohner des kleinen Dorfes im Süden von Sachsen-Anhalt hatten Einlass gefunden. Viele von ihnen waren nach ihrer Schicht im Braunkohlenwerk Zipsendorf hierher geeilt, konnten aber nicht mehr in den langgezogenen Anbau des zweistöckigen Hauses gelassen werden. Gerüchte hatten schon seit Wochen die Runde gemacht, wir sollen weg hier, unser Dorf soll weg, unsere Häuser, unsere Kirche. So wie vor dreißig Jahren unsere Gipsdiele, die alte Bahnhofsgaststätte. Am Ende dieses Mittwoch Abends hatten sie Gewissheit, dass all ihre Befürchtungen eintreten würden: nach 800 Jahren sollten die Geschichte von Wuitz enden und alle Bewohner ihre Heimat verlieren.

Der Untergang ist beschlossen

„Was soll denn mit uns passieren?“ „Wohin bringt ihr unsere Toten?“ „Und unsere Höfe? Unsere Kirche?“ Diese Fragen hallten durch das überfüllte Gasthaus. Die Antworten waren vorbereitet: ihr bekommt schöne neue Wohnungen, irgendwo. Die Häuser brechen wir ab, verschwenden will ja schließlich keiner etwas, und das Material könnt ihr für eure neuen Häuser verwenden. Die Toten, ja auch die werden umgesiedelt. Und eine Kirche, da gibt es jetzt wirklich Wichtigeres. Es geht um unsere Volkswirtschaft, den ersten Fünfjahrplan, den Aufbau des Sozialismus. Ihr sitzt hier auf einem riesigen Braunkohlevorkommen, an das müssen wir ran.

In den nächsten zwei Jahren gingen erst die Menschen, danach ihre Toten und zuletzt wurden die Häuser abgebrochen. Dann kam der Löffelbagger. Als die Braunkohle abgebaggert war, füllte sich das riesige Loch, das einmal ein Dorf war, mit Wasser. Heute erinnern nur noch Warnschilder am Ufer eines idyllischen Sees an das untergegangene Wuitz.

Ein Dorf in der Elsteraue

Wuitz lag im heutigen Dreiländereck Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, grob zwischen Leipzig und Gera. Nördlich der alten Reichsstraße von Altenburg nach Zeitz in hügligem Gelände. Die fast putzig klingenden Namen der Orte in der Region – so wie Meuselwitz, Würchwitz oder Obertitz – sind slawischen Ursprungs. Heute prägen leuchtendgelbe Rapsfelder, kleine Seen und Wälder die Gegend. Vom Braunkohletagebau ist nicht mehr viel zu sehen.

800 Jahre Dorfgeschichte

Am 13. April 1167 findet sich die erste urkundliche Erwähnung von Wuitz, damals noch als „Wza“, in einem Brief von Bischof Udo zu Naumburg an den Domherren zu Zeitz. Name und Zugehörigkeit von Wuitz wechselten über die Jahrhunderte, mal Kursachsen, mal Preußen, dann wieder Sachsen, zuletzt Sachsen-Anhalt. Aus Wza wurden Wozh, Wucz, Wuecz, Wuitzcsch und schließlich Wuitz. Unklar ist, was der Name bedeutet, mal wird auf „Anhöhe“, mal auf „Verhau“ getippt, aber einig ist man sich, dass der Ursprung sorbisch ist. Über die Jahrhunderte lebten hier Bauernfamilien, die die umliegenden 1200 Morgen Land bewirtschafteten.

Quelle: „Chronik von Wuitz“

Das änderte sich im 19. Jahrhundert. In den 1870er Jahren entstanden rund um Meuselwitz Kohlengruben. Und Untersuchungen ergaben, dass auch Wuitz auf großen Mengen Braunkohle saß. Zunächst wurde eine Schmalspurbahn gebaut, die von Gera nach Wuitz führte und die Kohle abtransportieren sollte. Wuitz hatte jetzt einen Bahnhof und mit der Einrichtung der Leonhard-Werke der Berliner Firma Vehring und Wächter auch einen Arbeitgeber, der Bergbauarbeiter in das Dorf brachte. Schon bald überstieg die Zahl der Bergleute die der Bauern.

Die Braumeisterfamilie Werner in Wuitz

Mein Großvater Johannes Werner wurde am 31.05.1905 in Wuitz geboren. Wahrscheinlich wurde er in der kleinen Kirche unter dem Rundbogen mit der Aufschrift „Ehre sei Gott in der Höhe“ getauft.

Wie viele der Bergbauarbeiter im Ort waren auch seine Eltern Zugezogene. Agnes Werner geborene Noack stammte aus dem knapp 15 Kilometer südwestlich gelegenen Kleinpörthen, ihr Mann Max war in Waldenburg in Sachsen, etwa 40 Kilometer südöstlich geboren.

Max Werner war kein „Kumpel“, aber für die Dorfbewohner hatte er eine zentrale Aufgabe: er war der Braumeister. Die Brauerei gab es schon seit über einhundert Jahren in Wuitz. Sie stellte seit Anfang des 19. Jahrhunderts ein „gut bekömmliches Lager- und Braunbier“ her, das sich eines guten Rufes erfreute. Mit Pferd und Wagen wurde das Bier in die Schankstätten der Umgebung gebracht. Anfänglich kam das Wasser für den Gerstensaft aus den Brunnen der Brauerei. Als der Grundwasserspiegel durch den Bergbau mehr und mehr sank, mussten die Leonhard-Werke der Brauerei täglich 25 Kubikmeter Wasser kostenlos liefern. 1904 entschied sich der Eigentümer – damals Karl Müller aus dem benachbarten Altenburg -, auf dem Grundstück zusätzlich eine Malzkaffeefabrik zu errichten. Das kleine Brauhaus in Wuitz wurde von den großen Brauereien der Region immer mehr verdrängt und so sollte ein zweites Standbein her.

Offensichtlich wichtig: oben links die Brauerei von Wuitz

Mein Großvater war drei Jahre alt, als sein Vater starb. Ein Schlaganfall mit nur 49 Jahren. Der Deutsche Braumeister- und Malzmeister-Bund beklagte in der „Zeitschrift für das gesamte Brauwesen“ 1908 einen „biederen, offenherzigen Kollegen“, der sich „warmen Anspruch auf ehrendes Gedenken“ bei ihnen gesichert hat.

Max Werner war der letzte Braumeister von Wuitz, nach seinem Tod wurde die Bierbrauerei dort aufgegeben.

Die Toten von Wuitz

Wahrscheinlich wurde Braumeister Werner in Wuitz beerdigt. Sollte das Grab 50 Jahre nach seinem Tod noch existiert haben, mussten auch seine sterblichen Überreste in den fünfziger Jahren den Ort verlassen. Die Toten des Dorfes wurden auf den Friedhof im benachbarten Zipsendorf umgebettet. „Die reibungslose und einwandfreie, insbesondere auch pietätvolle Durchführung der Umbettung fand allgemein Anerkennung unter der Bevölkerung.“, schreibt der Wuitz-Chronist Herbert Böttger. Wie das Ergebnis der pietätvollen Umbettung konkret aussah, kann man heute auf dem Friedhof in Zipsendorf betrachten. Ein Massengrab, nicht nur für die Toten von Wuitz, sondern gleich auch für das ebenfalls abgebaggerte benachbarte Sabissa. Der über die Jahre hochgewachsene Strauch vor dem Grabstein versperrt heute den frontalen Blick, als wolle sich das Grab verstecken. Fand das wirklich die beschriebene Anerkennung bei den Bürgern von Wuitz?

Friedhof in Zipsendorf

Verlorene Heimat

Johannes Werner und seine Mutter Agnes zogen nach dem Tod des Braumeisters zu Agnes‘ Vater nach Kleinpörthen. Mein Opa wuchs also bei seinem Großvater auf. Anfang der fünfziger Jahre verließ er die DDR. Kurze Zeit später wurde sein Geburtsort abgebaggert. Auch wenn er nur drei Jahre seines Lebens dort verbracht hatte, so war es doch sicherlich für ihn und sogar für mich ein ganz besonderer Ort, der unwiederbringlich verloren ist.

Fährt man heute auf der Autobahn 38 Richtung Leipzig, kann man die riesigen Ausleger der Bagger nicht übersehen. Im empfehlenswerten Bergbau-Technik-Park vor den Toren der Messestadt bekommt man einen guten Einblick in die Technologie und die Ausmaße des Kohleabbaus in Mitteldeutschland.

Station 13 des Rundgangs durch die Anlage erinnert an die verlorenen Orte im Tagebau in der Region südlich von Leipzig: „Wenn man von Verlorenen Orten spricht, so immer mit den unterschiedlichsten Emotionen und Sichtweisen, je nach Standpunkt des Betrachters. Nicht selten kam es vor, dass die im Tagebau beschäftigten Kumpel selbst ihre eigenen Wohnorte und damit die Heimat Überbaggern halfen. Es ist für Betroffene nicht einfach, den Prozess des langsamen Sterbens der Heimat voll zu erfassen und zu verarbeiten. Dass der Heimatverlust nicht spurlos an vielen Menschen vorbeigeht, zeigen uns viele Treffen Umgesiedelter. Sie halten die Erinnerungen an die verlorenen Orte sowie die Heimat wach und helfen, die Vergangenheit zu bewältigen.“

Ersatz für die Heimat?

Ob diese Bewältigung in den 50er Jahren zu DDR-Zeiten so möglich war, ist fraglich. Der Chronist Herbert Böttger betont, wie hoch der Lebensstandard der ehemaligen Wuitzer in den neuen Wohnungen war: „Alle diese Wohnungen sind mit Bad und Innenklosett ausgestattet, ebenso ist für Speisekammer und reichliche Nebenräume, wie Keller und Bodenkammer, gesorgt. Jede Wohnung, auch die kleinste, ist völlig für sich abgeschlossen und schön eingerichtet, so daß sich ihre Bewohner darin sehr wohl fühlen. Diese Ausstattung der Wohnungen beweist, daß sich unser Arbeiter-und-Bauern-Staat in seiner fortschreitenden sozialistischen Entwicklung um die Befriedigung des ständig steigenden Bedürfnisses an Wohnraumkomfort im Interesse seiner Bürger besonders bemüht.“

Bittersüß versucht der Chronist von Wuitz, dem Verlust noch etwas Positives abzugewinnen: „Eine Dorfgemeinschaft hat sich aufgelöst. Viele haben eine liebgewordene Heimstätte verloren. Stolz können aber ihre Kinder und Kindeskinder auf ihre Eltern sein. Zeigt ihnen doch die Chronik, daß auch ihre Eltern und Großeltern ihr Bestes gaben und sich immer tapfer für den Fortschritt, für die Aufwärtsentwicklung und für eine glückliche Zukunft eingesetzt haben.“

Abschließend stellt er fest: „Eine die Jahrhunderte überdauerte Gemeinschaft hat sich aufgelöst. Ihre Menschen sind jedoch in der engeren Heimat verblieben. Die Erinnerung an ihr freundliches Dörfchen möge ihnen die Gewissheit geben, daß sie durch die Aufgabe dieser liebgewordenen Heimstätte dem Aufbau unseres sozialistischen Staates und somit ihrer engeren deutschen Heimat dienten.“

Die Zerstörung jahrhundertealter Orte, um den Energiehunger der Gesellschaft zu stillen, ist kein ostdeutsches oder sozialistisches Phänomen. Es passierte ebenso im Westen und dauert heute noch an. Im Rheinischen Braunkohlerevier werden trotz bevorstehenden Kohleausstiegs im Tagebau Garzweiler weiter Ortschaften geopfert, die Heimat vieler Menschen und ihrer Geschichte sind.

Der unfreiwillige Verlust der Heimat prägt die Geschichte meiner Familie so wie vieler Familien in Deutschland, Europa und weltweit. Das Thema ist heute aktueller denn je. Die Orte zu besuchen, die für meine Familie Heimat waren, bringt mich ihrer und damit meiner Geschichte näher. Eine gewisse Wehmut wird dabei wohl nie vergehen.

Blick auf das verschwundene Wuitz im Frühjahr 2022

Quellen zu Wuitz und seinen Bewohnern

Die Geschichte, der Untergang und das Schicksal der Bewohner von Wuitz wurden 1957 im Auftrag des VEB Braunkohlenwerk Zipsendorf dokumentiert. In der „Chronik von Wuitz“ schildert Autor Herbert Böttger Geschichte und Alltag garniert mit vielen Bildern des Ortes. Auch die Daten aller Bewohner zum Zeitpunkt der Umsiedlung hat er zusammengetragen. Das Büchlein ist heute noch in Bibliotheken bestellbar. Herbert Böttger ist bemüht, den Untergang des Dorfes im Sinne seines Auftraggebers zu rechtfertigen. Doch zwischen den Zeilen liest man die Wehmut eines Betroffenen.

Ganz neu erschienen ist die Dokumentation „Bergbau und Umsiedlungen im Mitteldeutschen Braunkohlerevier“ von Andreas Berkner und der Kulturstiftung Hohenmölsen e.V. (Sax-Verlag, 1. Auflage 2022). Geschichte und Schicksal von Wuitz sind auf den Seiten 360-361 dokumentiert.

Die Darstellungen im Internet basieren weitgehend auf den Informationen von Herbert Böttger:

Wikipedia

www.schnaudertal.de

Zur Bahnstrecke Gera – Pforten – Wuitz – Mumsdorf

Auf Ancestry findet man einige genealogische Daten von Wuitz, wenn auch etwas versteckt in der Sammlung „Saxony, Anhalt, Anhalt-Bernburg, Anhalt-Dessau und Anhalt-Köthen, Deutschland, evangelische Kirchenbücher, 1760-1890“. Dirk Peters hat die konkreten Fundstellen auf seiner Website, die eine Fundgrube für Familienforschende ist, dankenswerterweise zusammengestellt.

Wuitz1799-1840ev. x oo +Göddeckenrode u Wuitz / 1799-1874, Bild 549-794
Wuitz1841-1873ev. x oo +Büddenstedt, Wuitz u Wulferstedt / 1808-1873, Bild 5-208

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