Kurrent, Sütterlin und Sauklauen – wie man hinter ihre Geheimnisse kommt
Das allererste Dokument, das ich je bei einem Archiv angefordert habe, war 2013 die Heiratsurkunde meiner Großeltern. Sie hatten 1931 in Althaldensleben geheiratet und ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, als ich Post vom Stadtarchiv Haldensleben im Briefkasten fand. Ganz vorsichtig öffnete ich den Umschlag und war so gespannt darauf, welche Erkenntnisse mir die Urkunde bringen würde. Dann aber die große Enttäuschung: die Informationen, die mir neu waren, konnte ich so gut wie gar nicht lesen.
Der amtlich vorgedruckte Teil der Urkunde verwendete die Fraktur Druckschrift, die kennt sogar meine Generation noch, zum Beispiel aus alten Kinderbüchern. Deutsche Schreibschrift aber ist eine ganz andere Nummer. Kurrent und Sütterlin: da ist man sich manchmal nicht einmal sicher, ob es sich überhaupt um lateinische Buchstaben handelt. Ich suchte im Internet nach Transkriptionstabellen, fand auch die ein oder andere, versuchte Buchstabe für Buchstabe zu entziffern, aber keine Chance. Das Dokument behielt seine Geheimnisse für sich.
Bei der Suche im Internet war ich auch auf die Sütterlinstube Hamburg im Altenzentrum Ansgar gestoßen. Eine geniale Idee: ältere Menschen, die Sütterlin und Kurrent noch in der Schule gelernt haben, entziffern für uns Uneingeweihte historische Dokumente. Damals meine einzige Chance. Ich scannte die Urkunde ein und mailte sie nach Hamburg. Nur einen Tag später war die Antwort da. Liebevoll in geschwungener Schreibmaschinenschrift war der Text transkribiert worden und ich war glücklich. Ich überwies eine Spende und freue mich bis heute, wenn mir die jetzt lesbare Urkunde in die Hand fällt. Das nennt man eine echte Win-Win-Situation.
In den nächsten Jahren versuchte ich, mich in die alten deutschen Schriften einzudenken. Eine Freundin schenkte mir das Buch „Deutsche Schreibschrift. Kurrent und Sütterlin lesen lernen“ von Manfred Braun. Ich bemühte mich redlich, aber mein Talent und meine Geduld halten sich hier leider sehr in Grenzen. Wer es versuchen will, dem kann ich das Buch durchaus empfehlen.
Auf Youtube finden sich einige Tutorials, sucht dort nach „alte deutsche Schrift lernen“ und es gibt eine Menge Treffer. Ganz aktuell hat der Ahnenforscherstammtisch Unna auf seinem Youtube-Kanal einen Vortrag zur „Entzifferung von alten Handschriften“ eingestellt, der sehr gelobt wird.
Und dann bieten immer mehr Volkshochschulen Kurse zum Erlernen alter deutscher Schriften an – einfach mal schauen, ob das auch in Eurer Stadt der Fall ist.
Trotz meiner Talentfreiheit wurden meine Lesekünste mit der Zeit und zunehmender Übung besser, aber immer wieder stehe ich rätselnd vor manchen Berufs- oder Ortsbezeichnungen. Sehr schade ist, dass ich einige Feldpostbriefe aus der Familie meines Mannes habe, die ich einfach nicht entziffern kann. Sie sind zu privat sind, als dass ich sie jemandem zeigen möchte. Aber wer weiß, vielleicht wird es ja irgendwann noch mal was.
Ein wirklicher – wie sagt man so schön auf neudeutsch – Game-Changer war da Facebook. Die unfassbar freundliche und kompetente Gruppe „Lesehilfe für alte deutsche Handschriften (Transkription)“, die 2014 gegründet wurde und mittlerweile fast 3000 Mitglieder hat, ist mein ständiger Anlaufpunkt. Es gibt auch weitere Gruppen, aber ich kann nur von dieser berichten und zwar ausschließlich Gutes. Häufig innerhalb von Minuten habe ich die Antwort auf meine Frage. Bei eigenen Übersetzungsversuchen kann man auch um „Qualitätskontrolle“ bitten. Ein bisschen eigenen Hirnschmalz sollte man schon reinstecken, zum Beispiel schreiben, was man selber lesen kann, Angaben zu Jahr und Herkunft der Urkunde machen, nicht nur einen Minischnipsel posten, damit es Vergleichsmöglichkeiten gibt – es den fleißigen Helferinnen und Helfern eben so einfach wie möglich machen. Ich profitiere leider nach wie vor mehr von der Arbeit der Gruppenmitglieder als ich selber helfen kann – aber da hat der Administrator was Tolles erdacht: einmal im Jahr wird ein Dokument aus dem Stadtarchiv Freiberg ausgesucht, das der Restaurierung bedarf, und jedes Gruppenmitglied kann hierfür spenden, wenn es ihm oder ihr ein Bedürfnis ist. Mir ist es eins, denn die Hilfe in dieser Gruppe ist einmalig.
Wie auch immer, abschrecken lassen sollte man sich von der Schriftproblematik in keinem Fall – denn es gibt die vielen Hilfsmöglichkeiten und häufig ist es auch gar nicht so problematisch wie gedacht. Urkunden aus dem 19. Jahrhundert sind manchmal besser zu entziffern als die aus dem 20. Jahrhundert, zumindest bevor Schreibmaschinen zum Einsatz kamen. Ein Text aus dem Jahr 1970 kann da durchaus kniffliger sein als einer, der 150 Jahre früher entstanden ist. Hier ein paar Beispiele:
Den Namen meines 5fach Urgroßvaters David Heitmann, der im Jahr 1815 im Salzlandkreis in Sachsen-Anhalt starb, wird wohl fast jeder entziffern können. Dass er Schafmeister war ist schon schwieriger, dass er das auf dem „hiesigen fürstl. Vorwerk“ und „gebürthig aus Wilsleben“ war, dass ihn die Brustwassersucht dahinraffte – dafür brauchte ich Hilfe.
Sehr hübsch und unproblematisch zu lesen ist der Name meiner Urururgroßmutter, Davids Enkelin Johanna König, geb. Haase, die am Neuemarkt in Quedlinburg lebte und aus Hoym kam. 1860 gab man sich Mühe mit dem Schreiben.
1905 wurde es dann schon sehr viel schwieriger. In der Geburtsurkunde meines Großvaters ist sein Vater Max Arthur Werner genannt. Doch welchen Beruf hatte Max Arthur? Schweinejäger? Irgendein Geiger? Oder vielleicht Spaziergänger? Ein Ahnenforscherkollege rettete mich: Max Arthur war Brauereipächter….
Ein Sütterlinbeispiel aus einer Urkunde habe ich nicht – dafür aber einen Tagebucheintrag meiner Großmutter. Am 10. Januar 1970 hat sie mit 69 Jahren zum ersten Mal in ihrem Leben ein Flugzeug bestiegen und das schriftlich festgehalten: „Mein erster Flug von Stuttgart nach Hamburg mit der Lufthansa DC 9“. Es ist nicht pures Sütterlin, das “a“ schon deutlich vereinfacht, aber die Bewertung ihres Abenteuers ist recht original geraten: herrlich
Wie schön, dass ich das heute lesen kann!