„Ich werde sehen, was ich tun kann, Baronowitz, das sagte ich Ihnen schon. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Rückfahrt nach Repzin.“. Bevor der Verabschiedete noch etwas entgegnen konnte, schloss Max Salomon energisch die Haustür und lehnte sich seufzend dagegen, so als wolle er sichergehen, dass diese nicht mehr von außen geöffnet würde. „Ist er gefahren?“, rief seine Tochter Käthe aus der Küche hinüber, „Und wolltest Du nicht bereits seit einer Stunde im Kontor sein, Vater?“. Max Salomon seufzte erneut und rieb sich die Schläfen. „Wie ich Dir bereits sagte: seinem Redefluß halten meine Ohren nicht stand.“1angelehnt an Zitat aus „Jugend in Not“, S. 29 unter Verweis auf Bundesarchiv Potsdam, 75 C Ge 1 DIGB 805 „Sei nicht ungerecht, Vater. Baronowitz ist kein unrechter Mensch, er sorgt sich um seine Schützlinge. Und es ist doch eine Schande, dass die jungen Kerle nicht einmal warme Jacken bekommen, um das Haus verlassen zu können.“. Max Salomon lächelte, sie hatte ja recht, seine Käthe. Nur ein Kämpfer wie Adolf Baronowitz konnte in Repzin bestehen. Aber Kämpfer waren nun mal anstrengend. Warum hatte sich das Kuratorium ausgerechnet für eine Unterbringung der Jungen in Repzin entscheiden müssen. Für die Mädchen hatte man doch auch etwas Passendes nahe Berlin gefunden. „Kollege Salomon wird sicherlich ein Auge auf die Einrichtung haben mit seiner großen Erfahrung in praktischen Dingen, besonders in der Landwirtschaft“, hatte es damals geheißen.2„Jugend in Not“, S. 25, unter Verweis auf Mitteilungen vom DIGB, Nr. 55, Mai 1901, S.7 Dass dieses vordergründige Lob vor allem viel Arbeit mit sich bringen würde, hatte Max Salomon bereits da geahnt.
Ein Schloss im Nirgendwo
Das Dorf Repzin liegt tief in Hinterpommern etwa zehn Kilometer südlich der Kleinstadt Schivelbein. Eine Strecke, die bis in die 1940er Jahre hinein meist mit der Kutsche bewältigt wurde.3Erinnerungen von Klaus Klitzke Das Gut, einige Wohnhäuser, die ein oder andere kleine Werkstatt und viel Landwirtschaft, die ihre Bewohner auch in Kriegszeiten noch ausreichend ernähren konnte.4Erinnerungen von Klaus Klitzke „Zwischen Briesen und Ventzlafshagen sieht man zur linken Hand das hohe Herrenhaus von Repzin liegen. Das Dorf liegt am Strittkenbach, der in seinem Ursprung der Grandbach heißt. Er fließt durch den Repzinschen See in den See bei Ventzlafshagen; beide Seen sind fast ganz abgelassen und von geringer Tiefe (4 m. tief).“, beschreibt Arthur Zechlin den Ort im Jahr 1886.5 Baltische Studien (Jg. 36, Heft 1/4, 1886), S. 98 Anfang des 20. Jahrhunderts lebten hier um die 500 Menschen, meist Bauern, aber auch einige Handwerker. Es gab eine Mühle, eine Postagentur und einen Telegrafen. Drumherum Felder, Seen und die Einsamkeit des platten Landes.
Jahrhundertlang war das Gut Repzin in adligem Besitz. Anna Sophie Elisabeth, Tochter des schwedischen Generals Joachim von Volkmann, brachte es 1672 in die Ehe mit Ernst Bogislav von Bonin ein.6Udo von Bonin: „Geschichte des Hinterpommerschen Geschlechtes von Bonin bis zum Jahre 1863“, S. 288 1862 wurde das Gutshaus errichtet.7„Jugend in Not“, S. 23 Das Anwesen wurde in der Familie weitergereicht bis es 1899 vom königlichen Landrath zu Dramburg, Eugen von Brockhausen, erworben wurde. Am 12. April 1901 kaufte der Berliner Kaufmann Eugen Rosenstiel das Schloss und die umliegenden Äcker.8Grundbuch von Repzin, Band III, Blatt No 82
Doch Eugen Rosenstiel war nicht auf einen Landsitz oder eine solide Geldanlage aus. Seine Absichten waren ganz und gar uneigennützig. Er hatte das Schloss und das dazugehörige Land zu einem einzigen Zweck erworben: der Einrichtung einer Fürsorgeanstalt für jüdische Jungen aus ganz Deutschland.9Julius Stern: Zur Geschichte der jüdischen Fürsorgeerziehung in Deutschland, in Menorah, Heft 11-12 (November 1932), S. 489 Es sollte auch das Vermächtnis von Eugen Rosenstiel werden: er starb am 9. März 1902 in Meran.
Die israelitische Fürsorgeanstalt
Die Erziehung jüdischer Kinder, die aus welchem Grund auch immer nicht in ihren Familien großwerden konnten, wurde im 19. Jahrhundert überwiegend von den örtlichen Wohltätigkeitsvereinen der jüdischen Gemeinden organisiert. Pflegefamilien, Besserungsanstalten, Gefängnisse – viel mehr Möglichkeiten gab es für problematische junge Menschen damals nicht. Schon länger hatte der Deutsch-Israelitische Gemeindebund darüber diskutiert, spezielle jüdische Erziehungseinrichtungen zu gründen. Tatsachen schuf dann das „Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger“, das am 1. April 1901 in Kraft trat, und konfessionell getrennte Fürsorgeeinrichtungen in Deutschland vorgab.10Bernhard Jensen: „Die Emanzipation vollenden: Der Deutsch-Israelitische Gemeindebund“, S. 172 Die Mädchen brachte man in Berlin-Plötzensee unter. Für die Jungen wurden mehrere Optionen diskutiert: stadtnah oder weit weg auf dem Land. Nachdem Eugen Rosenstiel dann aber das Schloss in Repzin aus dem Hut zauberte, fiel die Entscheidung nicht mehr allzu schwer. Am 1. Mai 1901 war es soweit: die „Israelitische Fürsorge-Erziehungsanstalt des DIGB zu Berlin. Eugen- und Amalie Rosenstiel-Stiftung“ wurde in Repzin eröffnet.
Das Konzept für das Heim war vergleichsweise modern: Die Jugendlichen sollten unterrichtet und auf einen Beruf vorbereitet werden. Eine Schusterei, Tischlerei und Schneiderei wurden eingerichtet, im Garten, den Ställen und auf den Äckern konnten Landwirtschaft und Gärtnerei betrieben werden. Handwerker aus der Umgebung leiteten die Zöglinge an. Für die schulpflichtigen Kinder gab es regulären Unterricht, die Lehrer unterwiesen aber auch die Schulentlassenen in Religion, Hebräisch, Rechnen und Deutsch. All das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zöglinge in allen Fürsorgeerziehungsheimen – christlich wie jüdisch – unter strafvollzugsähnlichen Bedingungen lebten. Aber trotz aller Kritik, die an Repzin über die Jahre aufkam: Zustände wie in manch anderen nichtjüdischen Anstalten, in denen die Jugendlichen in Zellen auf dem Boden schlafen mussten und gefesselt wurden, gab es hier nicht.11„Jugend in Not“, S.137 unter Verweis auf Joachim Fenner, Durch Arbeit zur Arbeit erzogen, S. 84 f.
Doch von Anfang an existierten grundlegende Probleme in Repzin. Der Zustand des Hauses, die Finanzen, qualifiziertes Personal, die Organisationsstrukturen – es haperte an fast allem.
Weder der Ort noch das Gebäude waren ideal waren für die Unterbringung von Jugendlichen. „Einem geschenkten Gaul sieht man bekanntlich nicht ins Maul.“, schrieb der ehemalige Lehrer Heinemann Stern, „Anders ist es nicht zu verstehen, dass eine jüdische Erziehungsanstalt und wenn es „auch nur“ eine der Fürsorge gewidmete war, in diese gottverlassene Gegend gelegt wurde. (…) Das Haus war ein alter, verbauter, überdies von Ratten und Mäusen angefressener Kasten, und alles 9 Kilometer von der nächsten Stadt – Schivelbein – mit Arzt, Apotheke und Lieferanten entfernt.“12„Warum hassen sie uns eigentlich?“, S. 69 f.
Repzin war alles andere als ein begehrter Arbeitsplatz – schlechte Bezahlung, karge Unterkünfte, die Arbeitszeiten waren lang und zur Krönung erwartete man von den Lehrern ein Leben im Zölibat.13„Jugend in Not“, S. 103 unter Verweis auf Bundesarchiv Potsdam, 75 C Ge 1 DIGB 822 Letzteres galt ausdrücklich nicht für den Heimleiter, denn auf die Qualitäten seiner Gattin zählte man: sie sollte fleißig mitarbeiten und den Jungen ein weibliches Vorbild geben – ohne jede Bezahlung. Entsprechend bescheiden war die Bewerberlage. Die meisten Lehrer blieben nicht lange und auch der Heimleiterposten war wenig beliebt. Von den Handwerkern, die aus dem Dorf und dem Umland kamen, erwartete man pädagogische Fähigkeiten – wo sie die in der hinterpommerschen Provinz herbekommen sollten, bleibt ein Rätsel. „Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß die Verwaltung bei der Auswahl der Leute eine günstige Hand gehabt hätte; jedenfalls hat sich die sprichwörtliche Berliner „Helligkeit“ in der Menschenkenntnis nicht manifestiert. Sie schickte uns mitunter Aufseher, die nur darum nicht aus Subjekten der Fürsorgeerziehung zu Objekten werden konnten, weil sie das zulässige Höchstalter überschritten hatten. Aber wesentlich für ihre Wahl war wohl der Umstand, daß sie nicht viel kosteten.“, beschreibt Heinemann Stern in deutlichen Worten die Situation.14„Warum hassen sie uns eigentlich?“, S. 70
Die chronische Unterfinanzierung überschattete alles. Zwar zahlte der Staat für jeden Zögling einen gewissen Grundbetrag, aber das Heim in Repzin war vergleichsweise klein und die Kosten damit überproportional hoch. Auch die Einhaltung der jüdischen Speisevorschriften machte das Leben teurer als anderswo. Die jüdische Gemeinde bemühte sich, die erforderlichen Mittel aufzubringen, aber Geld fehlte an allen Ecken und Enden. Selbst die Zahl der verwendeten Scheuertücher und die Menge an verbrauchter Seife wurden vom Kuratorium in Berlin argwöhnisch beäugt und kritisiert.15„Jugend in Not“, S. 113 unter Verweis auf Bundesarchiv Potsdam, 75 C Ge 1 DIGB 806 und 789
Durch die Organisationsstruktur waren Konflikte vorprogrammiert. Zu viele Köche rührten im Repziner Brei, denn mitzureden hatten:
- die staatliche Schulaufsicht in Köslin in Gestalt des Schulinspektors,
- der Rabbiner, der für die religiöse Erziehung zuständig war,
- das Kuratorium in Berlin, das fast alles bestimmte und dem Heimleiter kaum eigene Kompetenzen zubilligte,
- der Erziehungsdirektor in Repzin, der sicherlich gerne mehr entschieden hätte,
- und als Puffer vor Ort: der Mühlenbesitzer Max Salomon aus Schivelbein16„Jugend in Not“, S.25, der sich wahrscheinlich nicht freiwillig auf diesen Posten beworben hatte.
Zunächst fanden 24 Jungen Platz im Schloss, nach Umbauten in den Jahren 1902 dann 35 und 1912 schließlich 60.17„Jugend in Not“, S. 24 Sie kamen aus dem ganzen deutschen Reich.18„Jugend in Not“, S. 13 Eingewiesen wurden sie auf Beschluss des Vormundschaftsgerichts. Aber Eltern konnten sich auch ganz selbstständig entscheiden, ihre Söhne zur Besserung nach Repzin zu schicken. Die Zusammensetzung der Jungengruppe barg die nächsten Probleme – Schuljungen, Pubertierende, junge Männer, zwischen sechs und 21 Jahren, von einfach nur Unartigen bis hin zu Kriminellen, alles war unter einem Dach vereint. Schlimm sei dieses „Zusammenpferchen von im Grunde gutartigen Tunichtguten mit ausgesprochen asozialen Elementen“ gewesen, schreibt Heinemann Stern.19„Warum hassen sie uns eigentlich?“, S. 70
Und zu guter Letzt wird auch die Nachbarschaft eher misstrauisch auf die Einrichtung geschaut haben. Problematische Jugendliche plötzlich in ihrer ländlichen Idylle. Viele von außerhalb. Und dazu noch Juden. Oder sahen die Repziner auch Chancen in der neuen Einrichtung, Arbeitsplätze, neue Abnehmer für ihre Produkte, eine Belebung des Dorfes? Überliefert ist hier nichts, aber einfach wird es die Einrichtung in der hinterpommerschen Provinz sicher nicht gehabt haben.
Das Leben in Repzin
Das Leben im Erziehungsheim war streng durchgetaktet. Die Tage begannen früh, im Sommer bereits um fünf, im Winter um sechs Uhr. Vor Beginn des eigentlichen Arbeits- bzw. Schultags hatten die Jungen sich selbst, die Zimmer und das Haus zu reinigen. Gearbeitet wurde dann, unterbrochen von ein paar Pausen, bis zum Abendbrot um 19:00 Uhr. Danach eine kurze Freizeit und um halb 10 ging man ins Bett.20„Jugend in Not“, S. 114 unter Verweis auf Mitteilungen vom DIGB, Nr. 63, Dezember 1904, S. 17 f. Am Schabbat wurde nicht gearbeitet, sonntags war der Nachmittag frei. Fußball, Pingpong, Schwimmen im Sommer und Eislaufen im Winter – mehr Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung gab es nicht. Ein Radio wurde erst nach langer Diskussion Mitte der 20er Jahre angeschafft.21„Jugend in Not“, S. 121 f. unter Verweis auf Bundesarchiv Potsdam, 75 C Ge 1 DIGB 799
In den Schlafsälen lagen die Zöglinge auf Strohsäcken.22„Jugend in Not“, S. 118 Die Säle wurden nachts abgeschlossen, wer auf die Toilette musste, hatte sich mit einem Eimer zu begnügen. Einmal in der Woche ein warmes „Douchenbad“, ansonsten gab es nur im Winter heißes Wasser – soweit die Badepumpe funktionierte. 1909 fiel sie fast ein ganzes Jahr lang aus.23„Jugend in Not“ S. 117 f.
Es wurde Anstaltskleidung getragen.24„Jugend in Not“, S. 123 Auch hier reichte das Geld vorne und hinten nicht. Im Winter konnten die Jungen mangels warmer Kleidung manchmal nicht einmal das Haus verlassen. Auf dem Speiseplan standen überwiegend Kartoffeln, Brot und Eintöpfe25„Jugend in Not“, S. 124 – Pommern eben.
Die Erziehung schlug bei vielen Jungen nur mäßig an. Kleinere Diebstähle, Einbrüche in die Wohnung des Direktors, sexuelle Übergriffe, Fluchtversuche – immer wieder kam es zu solchen Vorkommnissen. Und manchmal auch zu wirklich kriminellen. Am 1. April 1904 brach Feuer aus in Repzin. Zwei Zöglinge hatten das Wirtschaftsgebäude in Brand gesetzt und waren geflohen. Man griff sie später in Anklam auf. Bei den Untersuchungen fand man zwei weitere Eimer Petroleum, mit denen das ganze Schloss in Brand gesetzt werden sollte.
Durchschnittlich ein Jahr blieben die Jungen in Repzin.26„Jugend in Not“, S. 16 Was aus ihnen wurde, ob sie es schafften, dank oder trotz ihres Aufenthalts ein bürgerliches, ein glückliches Leben zu führen, ist nicht überliefert. Und selbst wenn – die Nationalsozialisten setzten dem ab 1933 ein Ende.
Insgesamt alles andere als ideale Bedingungen und eine riesige Herausforderung für Lehrer und Aufseher. Und ganz besonders für den Leiter und seine Frau. Nachdem Siegfried Rosenbaum aus Hohensalza, der erste Erziehungsdirektor von Repzin, bereits nach knapp zwei Jahren im März 1903 das Handtuch warf,27„Jugend in Not“, S. 25 brauchte die Anstalt eine neue Leitung. Und mit Adolf Baronowitz fanden sie nicht nur einen energischen Pädagogen, sondern eine Persönlichkeit, die den schwierigen Bedingungen in Repzin fast 30 Jahre lang trotzen sollte.
Die Familie Baronowitz
Adolf Baronowitz wurde am 24. April 1876 in Beuthen/Oberschlesien als einziger Sohn des Schneidermeisters Heiman Baronowitz und seiner Frau Rosalie, geborene Kober geboren.28Geburtsregister Standesamt Beuthen/OS 1876/392, Nachweis einziger Sohn s. Israelitisches Familienblatt 01.11.1928 Nach seiner Ausbildung an der jüdischen Lehrerbildungsanstalt in Berlin29Michael Holzman: „Geschichte der Jüdischen Lehrer-Bildungsanstalt in Berlin: Eine Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der Anstalt am 8. November 1909“, Band 2, S. 17 war er zunächst im jüdischen Waisenhaus in Pankow tätig.30„Jugend in Not“, S. 28 unter Verweis auf Mitteilungen vom DIGB, Nr. 59, Dezember 1902, S. 17 Unmittelbar vor seinem Dienstantritt in Repzin heiratete er die 23-jährige Stenographin Else Bieber aus Berlin.31Heiratsregister Standesamt Berlin 9, 1903/149 Flitterwochen gab es für das junge Paar nicht, auf beide wartete in Repzin eine riesige Herausforderung, die zumindest die Kräfte der jungen Else übersteigen sollte.
Else Baronowitz musste als Frau des Erziehungsdirektors nicht nur Hausarbeiten aller Art organisieren und beaufsichtigen, sondern auch erzieherisch auf die Jungen einwirken.32„Jugend in Not“, S. 28 „Die Frau eines Anstaltsleiters trägt mit der Last der Wirtschaftsführung auch die Hauptsorge“, stellte Heinemann Stern fest.33„Warum hassen sie uns eigentlich?“, S. 72 Dazu kam der eigene Haushalt und die Familiengründung: Else wurde bald schwanger und bekam in den folgenden Jahren vier Kinder: 1904 kam Sohn Werner zur Welt, im Jahr darauf folgte Tochter Käthe, dann 1907 Sohn Heinz und 1910 Nesthäkchen Ilse. Eine Vollzeitstelle, Schwangerschaften und Kinderbetreuung – für eine Frau allein nicht leistbar. 1913 war Else Baronowitz dann bereits so überarbeitet, dass ihr die Ärzte einen vierwöchigen Urlaub verordneten.34„Jugend in Not“, S. 28 unter Verweis auf Bundesarchiv Potsdam, 75 C Ge 1 DIGB 806 Doch die größte Belastung stand ihr erst bevor. 1914 begann der Erste Weltkrieg und Adolf Baronowitz wurde zum Militärdienst eingezogen. Mit ihm verließen 25 der jungen Zöglinge, einer der beiden Lehrer und zwei der drei Aufseher Repzin und zogen in den Krieg.35Der Gemeindebote 06.08.1915, S. 2 Else Baronowitz musste quasi über Nacht zusätzlich zu ihren vielen Aufgaben noch die ihres Mannes übernehmen. Nur vorübergehend gelang es, Ersatzlehrkräfte zu gewinnen. Also erteilte Else Baronowitz auch noch den Handarbeitsunterricht.36Israelitisches Familienblatt Nr. 46, 14.11.1918, S. 3 Und dieser Zustand sollte sehr viel länger dauern als der Krieg selber – Adolf Baronowitz geriet in russische Kriegsgefangenschaft und kehrte erst 1920 zurück nach Repzin. All das raubte Else Baronowitz die Kraft für ein langes Leben.
Stammbaum der Familie Baronowitz
Für Adolf Baronowitz war der Lehrerberuf eine echte Lebensaufgabe. Neben der Leitung des Erziehungsheims war er Vorstandsvorsitzender des Vereins israelitischer Lehrer der Provinz Pommern37Jüdische Schulzeitung 15.02.1929, S. 5, veröffentlichte Artikel zur Erziehung Jugendlicher38Israelitisches Familienblatt, Blätter für Erziehung und Unterricht 30.11.1905, S. 9 und war ein leidenschaftlicher Kämpfer für eine angemessene Bezahlung und Altersversorgung der Lehrer39Israelitisches Familienblatt, Blätter für Erziehung und Unterricht 12.01.1922, S. 9. Dazu die steten Diskussionen mit dem Berliner Kuratorium um mehr Geld. Unermüdlich war er von fünf Uhr morgens bis abends neun Uhr für seine Arbeit auf den Beinen, hatte nur alle vier Wochen einen Sonntagnachmittag für sich alleine und besuchte darüberhinaus im Urlaub Fortbildungskurse.40„Jugend in Not“, S. 29 unter Verweis auf Bundesarchiv Potsdam, 75 C Ge 1 DIGB 805 Doch für eines nahm er sich Zeit: das Schachspielen. Eine Leidenschaft, die er mit seinem Sohn Werner teilte.41Bekanntgabe der Einsender der richtigen Lösungen der Schachaufgaben in der Central-Verein-Zeitung 18.10.1934, 10.10.1935, 22.05., 04.06. und 10.09.1936, 02.09. und 23.09.1937
Adolf Baronowitz war ein Mann, der für seine Überzeugungen einem Streit nicht aus dem Weg ging, nie aber nur für sich kämpfte, sondern für die ihm anvertrauten Jungen und seine Kollegen. Häufig zog er dabei den Kürzeren, aber aufgeben war nichts für Adolf Baronowitz. Er bat das Kuratorium, den Jugendlichen wenigstens ein Taschengeld für ihre Arbeit zu gewähren – abgelehnt.42„Jugend in Not“, S. 114 Er bat das Kuratorium, Matratzen für die Jungs anzuschaffen – abgelehnt.43„Jugend in Not“, S. 118 unter Verweis auf Bundesarchiv Potsdam, 75 C Ge 1 DIGB 805 Seine Erziehungsauffassungen waren strikt – Strenge, Arbeit und Belehrung waren die Grundpfeiler seiner Überzeugung, körperliche Züchtigung Teil seines pädagogischen Konzepts. „Wie ein Vater erst rügt, warnt und endlich auch körperlich züchtigt, so gehe ich auch vor.“44„Jugend in Not“, S. 144 Der Stock müsse die Faulheit austreiben, berichtete er dem Kuratorium.45„Jugend in Not“, S. 98 Mit rücksichtsloser Strenge wollte er aus den Jungen „brauchbare Menschen“ machen.46„Jugend in Not“, S. 97 unter Verweis auf Bundesarchiv Potsdam, 75 C Ge 1 DIGB 768 Claudia Prestel, die die Zustände in Repzin aufwändig recherchiert und in ihrem Buch „Jugend in Not“ dargestellt hat, bezeichnet Adolf Baronowitz als „professionellen Schläger“.47„Jugend in Not“, S.142 Ich meine, Adolf Baronowitz war Teil einer Gesellschaft, die das Verprügeln von Kindern noch Jahrzehnte später als adäquates Erziehungsmittel betrachtete. Insofern war er genauso Schläger wie ein Großteil der deutschen Eltern und Lehrer zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Noch Ende 1957 stellte der Bundesgerichtshof fest: „Dem Volksschullehrer steht kraft Gewohnheitsrecht die Befugnis zu, seine Schüler aus begründetem Anlaß zu Erziehungszwecken maßvoll zu züchtigen.“48BGH, Urteil vom 23.10.1957, 2 StR 458/56 „Brutalität und Strenge auf der einen Seite und ernstgemeinte Versuche zur Hilfe und Integration wechselten einander ab.“, so beschreibt Claudia Prestel Adolf Baronowitz sicherlich treffender.49„Jugend in Not“, S. 397
1928 beging Adolf Baronowitz sein 25-jähriges Dienstjubiläum und feierte Silberhochzeit. Die Kollegen der Lehrerschaft gratulierten ihm und betonten sein „mutiges, unerschrockenes Auftreten“. Das würde er in den folgenden Jahren ganz besonders brauchen.
Denn keine zwei Jahre später ließ ihn das Kuratorium in Berlin fallen. Sein Erziehungsstil passte nicht mehr zu den reformpädagogischen Strömungen der 1920er-Jahre und mit seiner kämpferischen Art konnte er auf wenig Rückhalt hoffen. Der Streit wurde ganz offen in der Jüdisch-liberalen Zeitung ausgetragen, die Vorwürfe flogen hin und her. Völliges Versagen des Anstaltsleiters! Hungerstrafe! Schwere Exzesse! Adolf Baronowitz hielt in bekannter Manier dagegen: Stimmt nicht! Unterfinanzierung! Ein Gebäude im Verfall!50Jüdisch-liberale Zeitung 15.03.1929, S. 6, 29.03.1929, S. 5 Drei ehemalige Repziner Lehrer standen ihm öffentlich bei: ein wahres Kesseltreiben sei gegen Adolf Baronowitz veranstaltet worden. Nie seien für Repzin Mittel vorhanden gewesen, auch nur das Nötigste zu beschaffen. Nur seine „unverwüstliche Lebenskraft“ und der „unzerstörbare Idealismus seiner Ehefrau“ hätten die Anstalt über die Jahre gerettet.51Leserbrief von Reich, Baruch, Heimbach in Jüdische Bibliothek 30.01.1929, S. 1512 Doch Adolf Baronowitz zog erneut den Kürzeren – er musste seinen Posten unter Belassung einer kargen Mindestpension im November 192952Jüdische Bibliothek, Nr. 211, Beilage zu Nr. 44 (31.10.1929) räumen. Dr. Hans Lubinski übernahm seine Nachfolge. 1930 wurde die Erziehungsanstalt in Repzin aufgegeben und nach Berlin verlegt. Am 2. Juni 1930 erwarb der Kreiskommunalverband Schivelbein das Gebäude und die Ländereien53Grundbuch von Repzin, Band III, Blatt No 82 und richtete dort ein Alters- und Tuberkuloseheim ein.
Für den Vollblutlehrer Adolf Baronowitz ein schwerer Schlag. Mit dem Rauswurf hatten seine Frau und er nicht nur ihre Arbeit und ihr Einkommen, sondern die gesamte Familie auch ihr Zuhause verloren. Fast dreißig Jahre hatten sie in Repzin gelebt, die Kinder waren hier geboren und aufgewachsen. Auch wenn die Wohnsituation im Schloss sicherlich nicht ideal gewesen war – der schlechte bauliche Zustand des Hauses, der Mangel an warmem Wasser, Wanzen im Kinderzimmer54„Jugend in Not“, S. 118 unter Verweis auf Bundesarchiv Potsdam, 75 C Ge 1 DIGB 789, manchmal brachen die Zöglinge sogar in ihre Wohnung ein – das alte Gutshaus war trotzdem ihre Heimat gewesen. Jetzt mussten sie umziehen und fanden eine Wohnung in der Kussenowstraße 3 in Schivelbein. Else Baronowitz, die sich über Jahre für das Erziehungsheim in Repzin aufgerieben hatte, erholte sich nicht von dieser Demütigung – sie starb im November 1930 mit nur 51 Jahren in Schivelbein.55Sterberegister Schivelbein 1930/105
Drei Jahre blieb Adolf Baronowitz noch in Pommern, lebte von einem kleinen Ruhegehalt und engagierte sich weiter im Lehrerverband. Dann beschloss er, wie so viele Juden aus Pommern, nach Berlin zu gehen. Dort arbeitete er zunächst stundenweise als Lehrer an der jüdischen Volksschule.56„Jugend in Not“, S. 262 unter Verweis auf Bundesarchiv Potsdam, 75 C Ge 1 DIGB 749 Er heiratete noch einmal, Hulda Heinrich, die 1891 in Oliva, Danzig geboren wurde.57Arolsen Archives, Karteikarte zur Deportation von Ida Heinrich mit Vermerk zu Schwester Hulda und Schwager Adolf Baronowitz
Adolf Baronowitz war mittlerweile 64 Jahre alt, er hätte sich auf sein eigenes Überleben auf dem Höhepunkt der Judenverfolgung konzentrieren können. Aber das passte nicht zu seinem Charakter. 1941 übernahm er in mörderischen Zeiten die Leitung des „Dauerheims für jüdische Schwachsinnige“ in Berlin Weißensee.58Kulturamt Weissensee: Juden in Weissensee, Berlin 1994, S. 244 Jüdisch und behindert, in den Augen der Nationalsozialisten doppelt „lebensunwert“. Engagiert wie eh und je nahm Adolf Baronowitz den Kampf um den Schutz dieser Menschen auf, so wie für den spastisch gelähmten Fritz Hahn.59Biografie von Fritz Hahn Die Deportationen der Behinderten, die ab April 1942 begannen, konnte Adolf Baronowitz nicht verhindern. Genauso wenig wie die Deportation seiner Frau Hulda am 11. Juli 1942 nach Auschwitz.60Deportationsliste 17. Osttransport nach Auschwitz, 11.07.1942 Auch seinen letzten Kampf musste Adolf Baronowitz verloren geben: er starb am 5. November 1942 im Konzentrationslager Sachsenhausen im Alter von 66 Jahren, angeblich an der Ruhr.61Sterberegister Sonderstandesamt Arolsen 1953/1881
Werner Baronowitz – Überleben in den USA
Der älteste Sohn Werner wurde am 15. April 1904 in Repzin geboren.
Nachdem die Familie das Erziehungsheim verlassen musste, kam auch er zunächst mit nach Schivelbein.62Meldeeintrag im Swinemünder Bade-Anzeiger Nr. 48, 24.08.1932 Im Februar 1934 zog er in die Universitätsstadt Göttingen.63Uta Schäfer-Richter: Die jüdischen Bürger im Kreis Göttingen, 1933-1945: ein Gedenkbuch, S. 33 Werner arbeitete als kaufmännischer Angestellter, er verlobte sich, alles sah nach einer normalen Familiengründung aus. Doch das Leben wurde auch hier für Juden immer schwieriger. Waren es die im selben Haus lebenden Töchter der Familie Nussbaum, die Werner ermutigten, an eine Zukunft im Ausland zu denken? Rosa und Hilde Nussbaum verließen Deutschland 1936,64Stolpersteine für die Familie Nussbaum in der Weender Landstraße 33 in Göttingen am 22. Juni 1937 reiste Werner Baronowitz aus Göttingen ab und kam am 3. Juli 1937 in New York an. Seine Verlobte hatte er zurückgelassen, sie sollte ihm folgen, sobald er ein eigenes Zuhause eingerichtet und ein Geschäft aufgebaut hatte.65Bericht von Simon Baronowitz Doch dazu sollte es nicht kommen. In diesen dunklen Zeiten verloren sie den Kontakt und sahen sich nie wieder. Werner Baronowitz blieb unverheiratet. In New York arbeitete er zunächst für eine Elektronikfirma, wurde dann aber am 27. November 1942 in die US-Armee eingezogen und in Portland, Maine stationiert. Dort diente er bis zum 4. Juli 1945 im Fort Levett in der Küstenverteidigung. Sein Vorgesetzter bescheinigte ihm einen „excellent character“, so dass Werner im Mai 1943 eingebürgert wurde.66Antrag auf Einbürgerung Portland, Maine Nr. 8697 v. 23. Juni 1943[2] Sozialversicherung Nr. 123-09-8234 Werner Baronowitz starb am 20. Juli 1988 in New York.67US-Kriegsveteranenministerium, BIRLS-Todesregister (System zur Suche von Bezugsberechtigten nach dem Versterben von Veteranen), 1850-2010 Er hatte als einziges Kind der Familie die Shoah überlebt.
Das Rätsel um Käthe Baronowitz
Kaum ein Jahr nach Sohn Werner kam am 30.07.1905 die erste Tochter der Familie Baronowitz, Käthe auf die Welt.
Als zunächst einziges Mädchen im Gutshaus hatte es die kleine Käthe nicht leicht. Es war nicht nur der Mangel an Spielkameradinnen, umgeben von problematischen Jugendlichen musste sie auf der Hut sein. Im April 1910 wurde sie von einem 14-jährigen Zögling sexuell belästigt.68„Jugend in Not“, S. 147 unter Verweis auf Bundesarchiv Potsdam, 75 C Ge 1 DIGB 804 Ob den Täter die zehn zur Strafe verteilten Stockschläge von weiteren Übergriffen abgehalten haben, ist zu bezweifeln. Jedenfalls wird sich Käthe in dem Haus, in dem sie lebte, ab sofort nicht mehr sicher gefühlt haben.
Auch wenn es Hinweise gibt, dass sich das Verhältnis zwischen Käthe und ihrem Vater nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft nicht positiv entwickelte, schien er sie zumindest in ihrer Berufswahl inspiriert zu haben: Käthe wurde Kindergärtnerin, oder Hortnerin, wie es damals hieß. Aber nicht nur der Beruf, auch die Politik gewann an Bedeutung in ihrem Leben: Käthe Baronowitz war Kommunistin. In Berlin hatte sie sich der Ende 1918 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands angeschlossen. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten war die KPD gezwungen, in den Untergrund zu gehen. Und Käthe beschloss, aktiv am Widerstand gegen das Regime teilzunehmen. Im Unterbezirk Charlottenburg gehörte sie der Führungsriege an und sorgte als „Gebietskassier“ dafür, dass Flugblätter verteilt und die Aktivitäten finanziell unterstützt wurden.69Heinrich-Wilhelm Wörmann: „Widerstand in Charlottenburg“, 2. Auflage, S. 67 Aber Käthe wurde verraten, durch ihre Zimmerwirtin, heißt es, Ende 1933 festgenommen und am 18. August 1934 zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Bundesarchiv existiert eine Prozessakte, die Käthes Geburtsdatum enthält, sogar in der Zeitung wurde über den Prozess berichtet.
An diesem Punkt beginnt das Rätsel um das weitere Schicksal von Käthe Baronowitz. Hochwahrscheinlich ist, dass Käthe ihre Strafe verbüßte, in Berlin blieb, dort heiratete und vielleicht sogar 1943 eine Tochter bekam. Laut Deportationsliste wurde eine Käthe Fechenbach, geb. Baronowitz mit dem Kleinkind Tana Fechenbach am 16.06.1943 nach Theresienstadt und und vier Monate später von dort nach Auschwitz deportiert. Nach dem Krieg suchte ihr Bruder Werner nach ihr – Käthe Baronowitz, geboren 30. Juli 1905.70Arolsen Archives, Schreiben Rechtsanwalt Rosenblatt, New York vom 12.01.1960 Die Ermittlungen des Internationalen Suchdienstes ergaben, dass Käthe einen Herrn Fechenbach geheiratet hatte.71Arolsen Archives, Schreiben des Internationalen Suchdienstes Arolsen an das Entschädigungsamt Berlin vom 14.04.1970
Es gibt aber auch ein Zeitzeugeninterview mit einer Käthe Baronowitz, geboren am 12. Februar 1910 in Repzin als Tochter des Direktors Adolf Baronowitz.72Testifying to the truth, Erlebnisbericht der Käthe Baronowitz Danach sei sie – die Kindergärtnerin Käthe Baronowitz – als Kommunistin 1936 zu 12 Jahren Arbeitslager verurteilt worden, nachdem sie zuvor von der Gestapo bestialisch gefoltert wurde. 1945 sei sie von russischen Truppen aus dem Zuchthaus befreit worden und nach Israel in einen Kibbutz ausgewandert, wo sie 1957 interviewt wurde – mit erstaunlicher Detailkenntnis über die Kindheit von Käthe Baronowitz. Aber bereits das behauptete Geburtsdatum passt nicht in die Geschichte – nachweislich wurde die jüngste Baronowitz-Tochter Ilse am 8. November 1910 geboren. Ein Abstand von neun Monaten zwischen der Geburt zweier Kinder ist zwar nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich. Und warum hätten die Eltern beiden Mädchen den selben Namen geben sollen? Und diese Käthe schien keinen Herrn Fechenbach geheiratet zu haben.
Zwei Kommunistinnen, beide mit dem Namen Käthe, beide Kindergärtnerinnen, zwei unterschiedliche Geburtsdaten, zwei unterschiedliche Verurteilungen, zwei unterschiedliche Schicksale. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei der in Israel interviewten Frau nicht um Käthe Baronowitz aus Repzin handelt, ist hoch. Aber was mag ihr Motiv gewesen sein, die Geschichte der „echten“ Käthe zu übernehmen? Das Rätsel wird sich wohl nicht mehr lösen lassen.
Heinz Baronowitz – Die verlorenen Kinder
Heinz Baronowitz wurde am 17. Mai 1907 in Repzin geboren. Ihn zog es von Pommern nach Neumünster in Schleswig-Holstein. Ab 1932 arbeitete er dort bei dem jüdischen Textilhändler David Minden73„Abseits der Metropolen“, S.329, 1933 wurde er Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde Bad Segeberg.74„Abseits der Metropolen“, S. 673 Und er lernte eine junge Frau kennen, Charlotte Reese. Eine Nichtjüdin, die der Religion ihres Mannes sehr offen gegenüberstand.75„Abseits der Metropolen“, S. 673 Heinz und Charlotte heirateten am 2. September 1933. Nur drei Monate später wurde Tochter Dagmar geboren, 1935 Sohn Peter.
Heinz Baronowitz, mit seiner Frau Charlotte, mit seinem Sohn Peter
private Bilder aus der Sammlung von Simon Baronowitz
Die Verfolgung von Heinz Baronowitz durch die Nationalsozialisten ist ebenso tragisch wie leider auch typisch. Im Frühjahr 1933 verlor er seine Arbeit, wurde beim nächsten Arbeitgeber „auf dringendes Verlangen des kommissarischen Betriebsrats“ sofort wieder entlassen und schlug sich mit Aushilfsjobs wie Brotaustragen durch. Erst 1935 bekam er wieder Arbeit als Vertreter für Textilwaren.76„Abseits der Metropolen“, S. 329 f. In der Pogromnacht 1938 wurde Heinz zum ersten Mal festgenommen, von der SA in einem „Prangerumzug“ durch die Straßen Neumünsters geführt und kam danach in „Schutzhaft“ in Sachsenhausen. Noch ging es den Nationalsozialisten in erster Linie darum, Juden aus Deutschland zu vertreiben. Charlotte Baronowitz, gerade erst Mutter ihres zweiten Kindes geworden, suchte verzweifelt nach einer Ausreisemöglichkeit für ihren Mann. Alexandrette, ein französisches Mandatsgebiet, das damals zu Syrien und heute unter dem Namen Iskenderun zur Türkei gehört, sei noch ein Schlupfloch, hieß es, und Charlotte kaufte ein Schiffsticket für Heinz. Vier Tage später, Ende Januar 1939, wurde er daraufhin aus der Haft entlassen. Doch die rettenden Tore schlossen sich vor der geplanten Abreise – Alexandrette nahm keine jüdischen Flüchtlingen mehr auf.77„Abseits der Metropolen“, S. 460 Heinz musste jetzt Zwangsarbeit leisten, als Bauarbeiter.78„Abseits der Metropolen“, S. 471 Das Ehepaar Baronowitz spürte die Schlinge um den Hals, die sich von Tag zu Tag enger zog. Im Sommer 1939 trafen sie die wahrscheinlich schmerzhafteste Entscheidung ihres Lebens: sie trennten sich von ihren Kindern, damit wenigstens ihre Tochter und ihr Sohn in Sicherheit waren. Im Juli 1939 bestiegen die fünfjährige Dagmar mit ihrem dreijährigen Bruder Peter an der Hand das Schiff nach England.
Mit dem sogenannten Kindertransport in England angekommen der erste Schock: die Geschwister wurden getrennt. Dagmar kam bei einer Familie im Süden unter, Peter blieb in London. In einer Familie, der das intelligente Kind einfach nichts recht machen konnte. Während Dagmar wenigstens eine liebevolle Pflegemutter bekommen hatte, die sie über den wenig emphatischen Pflegevater hinwegtrösten konnte, wurde Peter nach sechs Jahren von seiner Pflegefamilie verstoßen und in ein Waisenhaus abgeschoben. Zu viele Trennungen für den kleinen Jungen, die er sein Leben lang nicht würde verarbeiten können. Im Frühling 1942 kamen traurige Nachrichten aus Deutschland: Heinz Baronowitz war am 6. März 1942 im Konzentrationslager Wewelsburg gestorben. Im November 1940 war Dagmar und Peters Vater erneut in „Schutzhaft“ genommen worden, wieder hatte Charlotte alles versucht, hatte ihm ein Visum für Haiti besorgt. Als sie damit zur Gestapo in Neumünster ging, stellte man ihr seine Entlassung und Ausreise in Aussicht – wenn sie sich von ihm scheiden lassen würde. Hoffnung keimte in Charlotte auf, sie würde auch das tun, Hauptsache, Heinz käme frei. Die Ehe wurde am 5. Januar 1942 aufgehoben.79„Abseits der Metropolen“, S. 503 Zwei Monate später starb Heinz im Konzentrationslager, angeblich an einer Lungenentzündung.80Arolsen Archives, Mitteilung des Lagerarztes vom 06.03.1942
Nach dem Krieg wanderte Charlotte Baronowitz nach England aus – der Kontakt zu ihren Kindern sollte aber nicht mehr funktionieren. Sie konnten die Jahre der Trennung nicht mehr aufholen. Dagmar gründete ihre eigene Familie, bekam zwei Töchter und starb 2001 in Kent. Peters Wunden der Kindheit ließen sich nie mehr schließen. Äußerlich betrachtet war er erfolgreich – er wurde Arzt, heiratete zweimal, bekam zwei Kinder. Aber die Schatten seiner Vergangenheit ließen ihn nicht los – 1972 setzte er seinem Leben ein Ende.
Ilse Baronowitz – Die Auslöschung einer Familie
Ilse wurde am 8. November 1910 als jüngste Tochter des Ehepaars Baronowitz in Repzin geboren. Sie war 20 Jahre alt, als die Familie Repzin verlassen musste.
Ilse Baronowitz hatte das Pädagogik-Gen ihres Vaters geerbt. Sie zog wie er nach Berlin und arbeitete als Praktikantin und Erzieherin im Jüdischen Waisenhaus in Pankow. Dort war auch der Musiklehrer Hermann Levy aus Köln tätig, „der vielleicht intelligenteste und beste aller unserer Lehrer und Erzieher“, wie sich der frühere Schüler Jochay Goren erinnert.81„Verstörte Kindheit, Das jüdische Waisenhaus in Pankow als Ort der Zuflucht, Geborgenheit und Vertreibung“, S.41/42 Ilse Baronowitz und Hermann Levy haben nachhaltige Spuren im Gedächtnis der ihnen Anvertrauten hinterlassen. Für Ernst-Herbert Farr-Freytag gehören sie zu dem, was ihm aus seiner Zeit als Jugendlicher im Waisenhaus bis heute am stärksten in Erinnerung geblieben ist.82„Verstörte Kindheit, Das jüdische Waisenhaus in Pankow als Ort der Zuflucht, Geborgenheit und Vertreibung“, S. 37
aus Albrecht, Brent, Hammel (Hrsg.): „Verstörte Kindheiten“ S. 130
mit freundlicher Genehmigung der Cajewitz Stiftung
Ilse und der zehn Jahre ältere Hermann verliebten sich und heirateten am 24. August 1933 in Berlin.83Heiratsregister Standesamt Pankow 423/1933 Gewohnt wurde im Gebäude des Waisenhauses in der Berliner Straße 120. 1933 kam die Tochter Susanne Elisabeth,84Geburtsregister Standesamt Berlin-Charlottenburg I 360/1933 1937 die kleine Eva Hadassa85Geburtsregister Standesamt Berlin 13a (Wedding) 690/1937 auf die Welt. Dagmar Baronowitz erinnerte sich an ihre beiden Cousinen und auch daran, dass Ilse und Hermann Levy fest daran glaubten, dass es eine Zukunft für sie in Deutschland geben würde.86The British Library Sound Archive, Diane Garner née Dagmar Baronowitz interviewed by Alan Dein Sie schickten ihre Töchter daher nicht mit einem der Kindertransporte nach England. Ihre Hoffnung wurde bitter enttäuscht. Am 26. Oktober 1942 wurde die gesamte Familie nach Riga deportiert. Am 29. Oktober 1942 ermordeten die Nationalsozialisten Ilse, Hermann, die achtjährige Susanne und die fünfjährige Eva in Riga.87Gedenkbuch Bundesarchiv, Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945
Was bleibt?
Heute liegt Repzin in Polen und heißt Rzepczyno. Wieder ist im Schloss eine Jugendeinrichtung untergebracht, heute eine katholische. Das Schloss ist renoviert und strahlt Behaglichkeit aus.
Jüdische Erziehungsheime existieren in Deutschland nicht mehr.
Für Heinz Baronowitz wurde am 22. August 2005 in Neumünster ein Stolperstein verlegt.88Stadt Neumünster, Broschüre Stolpersteine Die traurige Geschichte seiner Kinder Dagmar und Peter wurde im Buch „The Kindertransport“89Jennifer Craig-Norton, The Kindertransport: Contesting Memory, 2019 dokumentiert. Die Kinder und Enkel von Peter und Dagmar Baronowitz leben heute in Großbritannien und Australien. Vom Leben ihrer Vorfahren in Repzin wussten sie nichts. Es freut mich sehr, dass ich helfen kann, diese Lücke zu schließen.
Ganz herzlichen Dank an Simon Baronowitz für die wunderbaren Bilder seiner Familie und die vielen Hinweise. Die ergreifende Geschichte seiner Familie wird mir immer in Erinnerung bleiben.
Literatur
Repzin
Claudia Prestel, Jugend in Not, Fürsorgeerziehung in deutsch-jüdischer Gesellschaft (1901-1933), Wien, Köln, Weimar 2003
Heimann Stern, Warum hassen sie uns eigentlich? Jüdisches Leben zwischen den Kriegen, Düsseldorf 1970
Julius Stern, Zur Geschichte der jüdischen Fürsorgeerziehung in Deutschland, in: Menorah, Heft 11-12, November 1932, S. 484 ff.
Familie Baronowitz
The British Library Sound Archive, Diane Garner née Dagmar Baronowitz interviewed by Alan Dein
Testifying to the truth, Erlebnisbericht der Käthe Baronowitz
Pestalozzischule Neumünster, Juden in Neumünster – Schicksale und Verbleib
Albrecht, Brent, Hammel (Hrsg.), Verstörte Kindheiten, Das jüdische Waisenhaus in Pankow als Ort der Zuflucht, Geborgenheit und Vertreibung, Berlin 2008
Jennifer Craig-Norton, The Kindertransport: Contesting Memory, Indiana University Press 2019
Bettina Goldberg, Abseits der Metropolen, Die jüdische Minderheit in Schleswig-Holstein, Neumünster 2011
Heinrich-Wilhelm Wörmann, Widerstand in Charlottenburg, Hrsg. Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Bd. 5, 2. Auflage 1998